: Wenig Brot und kein Vertrauen
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
Ginge es nach den Vorstellungen der US-Regierung, dann müsste sich Ägypten, ihr wichtigster Alliierter in der arabischen Welt, als demokratischer Vorreiter in der Region geben. Doch selten klaffte die Lücke zwischen Regierenden und Regierten am Nil so weit auseinander wie heute.
„Wir sind wie ein Heuhaufen, der auf den Funken wartet“, beschrieb vor kurzem ein junger Ägypter die Lage seines Landes. „Die US-Politik gegenüber dem Irak und dem israelisch-palästinensischen Konflikt hat die ägyptische Regierung in einer Zeit in eine extrem unbequeme Lage gebracht, in der die wirtschaftlichen Bedingungen schwierig sind. Dadurch hat die Regierung zweifellos weiter an Respekt und Unterstützung im Volk verloren“, schlussfolgert das unabhängige Konfliktforschungsinstitut International Crisis Group in einem vor kurzem veröffentlichten Ägyptenbericht, fügt aber auch hinzu, dass die Position der Regierung Mubarak zwar erodiert, aber noch nicht destabilisiert ist.
Für den Kairoer Schulbusfahrer Mahmud ist das ohnehin einerlei. Zwar ärgert er sich über den Irakkrieg und über die täglichen Fernsehbilder aus den israelisch besetzten Palästinensergebieten, den größten Teil seiner Aufmerksamkeit widmet er allerdings seinem täglichen, ganz persönlichen Überlebenskampf. Zum Schulanfang hatte seine Frau ihren Ehering versetzt, um neue Kleidung und Lehrmaterial für ihre fünf Kinder kaufen zu können. Laut einem Bericht der UN-Entwicklungsorganisation UNDP gelten über 40 Prozent der ägyptischen Haushalte als „subjektiv arm“. Tendenz steigend.
Die Weltbank warnte in ihrem letzten Entwicklungsbericht davor, dass die wirtschaftliche Stagnation zu einer weiteren Zunahme der Armut führen könnte. Was das Bevölkerungswachstum betrifft, steht Ägypten noch vor den anderen Regionalmächten Türkei, Iran, Israel und Saudi-Arabien. Jeder vierte der 280 Millionen Araber ist Ägypter. Im Gegensatz dazu ist das Bruttosozialprodukt von weniger als 100 Milliarden Dollar das kleinste der Regionalmächte, schreibt der ägyptische Politologe Ahmad Abdallah – und das Bevölkerungswachstum frisst jegliches Wirtschaftswachstum auf.
Gegenwärtig sind es nicht eine drohende Machtübernahme der Islamisten oder die Terroranschläge ihrer militanten Mitstreiter, die in den Köpfen aller Ägypter sind, sondern mögliche Brotunruhen, wie sie bereits 1977 überall im Land stattgefunden haben. Es sind die Preissteigerungen für die Dinge des täglichen Überlebens, die den Ägyptern am meisten zu schaffen machen. Seit das ägyptische Pfund im Januar für den Markt freigegeben wurde, hat es über 40 Prozent seines Werts verloren. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind in der gleichen Höhe gestiegen. Selbst Regierungsstatistiken sprechen davon, dass Staatsbeamte und Arbeiter des öffentlichen Sektors die Hälfte ihrer Kaufkraft verloren haben. Mehr als die Hälfte des Einkommens müssen sie für Nahrungsmittel ausgeben.
Das Vertrauen, dass es die Regierung richten wird, ist verloren gegangen. Ein junger ägyptischer Antikriegsdemonstrant brachte sein Gefühl jüngst mit einer Frage auf den Punkt: „Warum habe ich keine Arbeit und warum konnte die Regierung den Krieg gegen den Irak nicht verhindern?“ Hinzu kommt, dass die Regierung Mubarak von Washington mit Forderungen nach politischen Reformen unter Druck gesetzt wird. Damit wurden auch die Rufe der ägyptischen Opposition lauter, einer weiteren US-Einmischung zuvorzukommen. „Die politische und konstitutionelle Reform zu verzögern, ist eine Einladung für eine ausländische Intervention, seit die Demokratie in der arabischen Welt in den USA zu einem innenpolitischen Thema geworden ist“, schreibt die linke ägyptische Wochenzeitung Al-Ahali.
Die gesamte Opposition hat sich eine Veränderung der Verfassung mit dem Ruf nach echten Präsidentschaftswahlen und einem Ende der Notstandsgesetze auf die Fahne geschrieben. Auch die Islamisten bilden da keine Ausnahme: „Ich habe aufgehört, über die Einführung der Scharia zu schreiben, weil das nicht unsere Priorität ist. Unser erstes Problem ist unsere Unabhängigkeit und echte Demokratie“. Das sind neue Töne, die der islamistische Publizist Fahmi Huweidi da jüngst anschlug.
Der Konsens der Opposition mit Allianzen aus Islamisten, Linken und Nasseristen lässt sich seitens der Regierung und der herrschenden Nationalen Demokratischen Partei (NDP) nicht mehr ignorieren. Bei ihrem letzten Parteikongress im September war viel von politischer Reform die Rede, vor allem von Hosni Mubaraks Sohn Gamal Mubarak, der inzwischen im Parteipräsidium sitzt. „Ich glaube, es ist Zeit, dass wir aufhören, Reformen nur als etwas zu sehen, was uns von außen aufgedrückt wird. Es ist ein Teil der Vision für unser Land“, erklärte der Sohn des Präsidenten.
Gamal wurde allgemein als der mögliche Nachfolger seines Vaters gehandelt, dessen Amtszeit offiziell in zwei Jahren endet. Die Tatsache, dass Gamal im Februar und Juni vergangenen Jahres Wirtschaftsdelegationen in den USA anführte, er regelmäßige Fernsehauftritte hat und ständig auf den Titelseiten der staatlichen Presse erscheint, haben im Land eine Debatte namens „Tawarith As-Sulta – Vererbung der Herrschaft“ – ausgelöst, in der erstmals öffentlich der Präsident und seine Familie kritisiert wurde.
Doch zumindest diese Diskussion ist nun vorläufig vom Tisch. Der Präsident gab zu Beginn des Jahres eine viel beachtete Erklärung ab, in der er Ägypten als Republik bezeichnete, in der es keine Regime-Erbfolge geben werde. „Demokratie ist gegenwärtig die allgemeine internationale Stimmung, und Ägypten möchte nicht, dass sein Ruf durch eine vererbte Präsidentschaft ruiniert wird“, interpretiert der bekannteste ägyptische Soziologe Saad Eddin Ibrahim den überraschenden Schritt Mubaraks.
Die Frage der politischen Reform bleibt aber dennoch weiter bestehen. Dass die Präsidentschaft nicht vererbt wird, heißt noch lange nicht, dass der nächste erste Mann am Nil tatsächlich demokratisch gewählt wird. Traditionell macht das Militär den Kandidaten unter sich aus. Das Volk darf dann nur noch ja oder nein sagen.
Gemessen werden wird die Reformbereitschaft auch daran, ob die Notstandsgesetze aufgehoben und es echte und saubere Präsidentschaftswahlen geben wird. Präsident Mubarak kündigte beim Parteikongress schwammig an, jene Teile des Notstandsgesetzes zu widerrufen, die nicht für die Sicherheit des Landes notwendig seien.
Mubaraks Informationsminister und NDP-Generalsekretär Safwat Scharif drückte sich da etwas klarer aus, als er erklärte, dass alle Rufe nach konstitutionellen Reformen abgelehnt würden, weil sie auf Kosten der nationalen Stabilität und Einheit gingen. Schließlich garantiere die Verfassung dem Präsidenten besondere Rechte, um den Terrorismus zu bekämpfen. Deutlicher hätte er den Widerspruch zwischen Washingtons Forderung nach Demokratisierung des Nahen Ostens und Fortschritten im globalen Antiterrorkampf kaum auf den Punkt bringen können.