: Floating Homes statt Seemannsmission
Berlin entwickelt seine Ufer
Neulich war ich im Weddinger Westhafen. In einem der Getreidespeicher dort werden jetzt die Zeitungen der Staatsbibliothek endgelagert. Früher gab es dort noch eine gute Hafenkneipe und eine Seemannsmission – mit Pfarrer. Aber schon damals zog sich seine Gemeinde immer mehr auseinander, das heißt, er war ständig mit einem Boot und Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf unterwegs auf den diversen Kanälen und Flussläufen – hin zu den verlorenen Seelen.
Jetzt haben im Westhafen endgültig die Kreativen das Sagen: Schon gibt es jede Menge Ideenskizzen im Internet, für einen „Point No. 6“ zum Beispiel, was immer das sein soll, sowie für „moderne Büroneubauten – nordwestlich des Regierungsviertels“ etc. Anderswo – am Wannsee – werden dagegen die Ufer eher beruhigt: zum einen durch das Röhrichtschutzgesetz und zum anderen aufgrund von Konsumentenmangel. So ging gerade das 135 Jahre alte Ausflugslokal „Schildhorn“ Pleite, und der seit 1945 beliebte Lesbentreff „Sabine 2“ brannte ab.
Auch die Wasserflächen selbst glätten sich langsam: Mehr und mehr wird der Schiffsverkehr nur noch von Schrottkähnen und polnischen Kiestransportern bestimmt. Letztere kommen von der Oder über den Finowkanal und bringen Baustoff für die neue Betonhauptstadt. Die Kiesgrube samt Ladehafen befindet sich direkt an der Oder – gegenüber der Einfahrt in den Kanal. Nach der ersten Bau- und Abrisskonjunktur befindet sich das Verkehrsaufkommen des neuen Berlin nun in etwa wieder da, wo es schon einmal im 15. Jahrhundert war – nachdem die Hohenzollern Berlin aus der Hanse herausgelöst und ökonomisch unterworfen hatten: auf der selben Höhe wie Frankfurt (Oder).
Und es passiert hier das Gleiche wie im Lausitzer Braunkohlerevier: Die Produktionsstätten wurden stillgelegt und ihre einstigen Anbindungen ans Wasser erst gekappt – dann zu kostbaren Uferimmobilien erklärt, die es zu entwickeln gilt: So enstanden in Spandau, am Tegeler Hafen, am Rummelsburger See und in Alt-Stralau teure Wohnblöcke – mit Bootsanleger. Aus dem Kühlhaus an der Oberbaumbrücke wurde das Fancy-Domizil der Plattenfirma Universal, aus dem Speicher daneben eine vierstöckige Neonazi-Diskothek. Viele dieser edel renovierten Teile mit Blick aufs Wasser stehen leer – wie etwa die Lofts im Bahnhof Jannowitzbrücke oder in Oberschöneweide. Dazu warten noch zig Kilometer tote Hafen- und Speicheranlagen auf ihre „Entwicklung“. Die landeseigenen Hafen- und Lagerhausgesellschaft Behala will zum Beispiel den überflüssig gewordenen Osthafen an die Münchner Bauwert-Gruppe verscherbeln, deren Motto lautet: „Wir machen Bauwerke zu Bauwerten.“
Weiter oben ließ eine Wasserstadt GmbH kürzlich futuristische „Floating Homes“ entwerfen – für 320.000 bis 540.000 Euro das Stück. Zwar faseln die Developer ständig von Hausbooten, Flusstaxis und regem Schiffsverkehr, aber durch eine Luxusprivatisierung der bebauten Uferflächen wird sich nie ein ähnlich inniges Verhältnis zwischen Wasserstraßen und Bewohnern herstellen wie etwa in Holland. Im Gegenteil kann man von einer noch größeren Verödung der Wasserflächen ausgehen. Sogar die Spezies, die früher als neureiche Feizeitkapitäne oder proletarische Ruderer an den Wochenenden die Seen und Flüsse bevölkerten, zerfällt heute in solche, die dafür Geld, aber keine Zeit haben, und in sone, die vielleicht Zeit haben, aber kein Geld. Selbst aus den freizeitverwöhnten Beamten mit eigener Jolle wurden gehetzte Projektleiter an Computern.
Auch die Revitalisierung der Wasserstraßen ist so ein Projekt. Ähnlich wie die Arbeiterwohnungs-Verwaltungen der stillgelegten Ruhrzechen sich zu international operierenden Grundstücksspekulanten und die Immobilienverwaltungsabteilung der Bundesbahn sich zur Vivico Real Estate mauserten (sie ist jetzt nach der Stadt der größte Developer in Berlin), wurde wahrscheinlich auch aus der Behala inzwischen eine reine Immobilienentwicklungsfirma von Gottes Gnaden – die voller Ideen steckt. Besonders beliebt sind in den oberen Entscheidungsgremien der „Mix“, also Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Kultur, in einem Uferblock und ferner die „Bugarchitektur“: Immer mehr Gebäude – nicht nur an Flüssen und Kanälen – werden in Schiffsform, mit einem Bug also, gebaut. Die Stadt strotzt bereits vor Häusern mit stolzem Bug – und obenauf meist noch eine Art Kommandobrücke, wo – wenn es sich um Firmenkomplexe handelt – die Geschäftsführung ihre wichtigen Entscheidungen trifft.
Meistens auch noch nachts, wenn alle Zeitarbeitskräfte schlafen, weswegen viele dieser neuen Kommandohöhen in der Stadt im Dunkeln weithin leuchten. Dort oben werden nocturn die Weichen gestellt, Flüsse und Kanäle revitalisiert – und überhaupt alles neu durchkalkuliert. So kam man z. B. auf die nachhaltige Parkraumbewirtschaftung, die Nutzung öffentlicher Gebäude und Kirchen als Plakatwände, die öffentlichen Flächen als Werbeträger, das Werbefernsehen in der U-Bahn usw. HELMUT HÖGE