cdu/csu-reformpapier : Projekt Tellerwäscher
Das neue Reformpapier von CDU und CSU hat einen programmatischen Titel. So gehört es sich ja auch. Er lautet: „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Darunter versteht die Union, dass jeder Job zumutbar ist. Egal, wie schlecht bezahlt. Das wäre keine Ausbeutung, kein Lohndumping, kein Arbeitszwang – denn das alles gäbe es nicht mehr, wäre per Definition verschwunden. Bei der Union heißt es vornehm „Niedriglohnsektor“ und dort würden „Freiräume“ eröffnet, wie CDU-Chefin Angela Merkel gestern ausführte. Wer diese soziale Segnung nicht begreift, der wäre eben „arbeitsunwillig“ und hätte es verdient, dass man ihm die Sozialhilfe kürzt.
Kommentarvon ULRIKE HERRMANN
Nun ist sowieso umstritten, ob Lohndumping überhaupt Arbeitsplätze schaffen kann und nicht vielmehr vernichtet. Denn mit Magerlöhnen lässt sich nicht gut konsumieren. Schon jetzt lahmt bekanntlich die Binnennachfrage, während der Export brummt. Der „Standort Deutschland“ ist international wettbewerbsfähig, nur das „Kaufhaus Deutschland“ hat ein Problem.
Aber das ist ein alter Streit und Großzügigkeit eine Tugend: Also sei einmal angenommen, die Union hätte Recht und erzwungenes Lohndumping würde tatsächlich zur Vollbeschäftigung führen. Was passiert dann?
Zunächst nicht viel, scheinbar. Wir hätten weiter eine Unterschicht der Niedrigqualifizierten, der eigentlich Chancenlosen. Nur dass sie jetzt zwar immer noch fast mittellos, aber nicht mehr arbeitslos wären. Ihrer Armut jedoch könnten sie nicht entkommen, aus dem Niedriglohn gäbe es keinen Ausweg. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass man vom Mini-Job-Tellerwäscher zum Vollzeit-Vorstandschef-Millionär aufsteigen könnte – oder auch nur zum abgesicherten Facharbeiter.
Es wäre also Vollbeschäftigung ohne Aufstiegsperspektive. Wer arbeitet bliebe arm. Das wäre neu in Deutschland. Bisher war Vollbeschäftigung an das Versprechen geknüpft, dass es den Arbeitnehmern besser geht. Nur weil alle auf Wohlstand vertrauten, hat das Wort Vollbeschäftigung diesen Glanz.
Diesen Fetischcharakter dürfte das Wort schnell verlieren, wenn immer mehr Menschen erlebten, dass sie eigentlich Tagelöhner sind – wie im 19. Jahrhundert, nur dass sie jetzt einen Fernseher besitzen.
Vollbeschäftigung bei Niedriglohn könnte also einen Effekt haben, den gerade die Union bestimmt nicht anpeilt: Die Deutschen könnten sich als die Klassengesellschaft begreifen, die sie schon lange sind.