piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Gemeinschaft zählt

Die antisemitischen Volten der Rede Martin Hohmanns verursachten allgemeine Aufregung. Zu Recht. Aber leider blieb unbeachtet, dass er sich zudem gegen Rechtsstaatlichkeit aussprach. Ein Blick zurück auf Überlegungen eines Abgeordneten

„Gemeinnutz geht vor Eigennutz“: Mit diesem Satz lässt sich der Rechtsstaat aushebelnBezahlen müssen die Deutschen, die „fleißig arbeiten und Kinder großziehen“

VON MICHAEL WILDT

Die öffentliche Debatte um die Rede des Abgeordneten Martin Hohmann gab eine eigentümliche Blindstelle zu erkennen. Konzentriert auf den Vorwurf des Antisemitismus, wurde der erste Teil der Rede übersehen, in dem sich Hohmann über das Anspruchsdenken und die Pflichten der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft äußerte. Was er hier im Gewand der volkstümlichen Forderung, Gemeinnutz habe vor Eigennutz zu gehen, formulierte, stammt tatsächlich aus dem Arsenal volksgemeinschaftlichen Denkens. Und es steht im Rückblick auf den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzungen zu befürchten, dass im Unterschied zum Antisemitismus, der in Deutschland mittlerweile auf öffentlichen Widerspruch trifft, die Rhetorik der Volksgemeinschaft hingegen kaum Anstoß erregt, ja sogar auf Zustimmung stößt.

„Wir wollen uns über das Thema ‚Gerechtigkeit für Deutschland‘, über unser Volk und seine etwas schwierige Beziehung zu sich selbst einige Gedanken machen“, mit diesen Worten begann Hohmann seine Rede und präsentierte dem Auditorium drei Beispiele: den Fall des so genannten Kalifen von Köln, der trotz Verurteilung nicht ausgewiesen werden könne, weil ein deutsches Gericht deutsche Gesetze so auslege, dass jener, so Hohmann wörtlich, „sich nicht zur Rückreise in die Türkei, sondern zum weiteren Bezug deutscher Sozialhilfe gezwungen“ sehe. Der zweite Fall betraf den bekannten Sozialhilfeempfänger in Florida, über den Hohmann sich mit einer Verve ausließ, die ironisch klingen sollte, deren Gehässigkeit jedoch unüberhörbar war. Der dritte Fall führte Hohmann ins heimatliche Hessen, wo eine Kreisverwaltung dazu „verdonnert“ worden sei, einem 54-jährigen Sozialhilfeempfänger das Potenzmittel Viagra nicht grundsätzlich zu verweigern.

Man könnte die Klagen als populistisches Schüren von Sozialneid abtun, als das Lamento derer, die, eigener Überzeugung gemäß stets zu kurz gekommen, für sich das Recht des klandestinen Rechtsbruchs reklamieren, ganz persönliche „Wiedergutmachung“ beanspruchen und also ihre Steuererklärung fälschen, Versicherungen betrügen oder mit anhaltender Lust die Straßenverkehrsordnung missachten. Vielleicht zog der Fall von „Florida-Rolf“ nicht deshalb so viel Empörung auf sich, weil er vom allgemeinen Verhalten in eklatanter Weise abwich, sondern solche Praktiken publik machte. Cosí fan tutte, aber bitte doch heimlich!

Allerdings ging es Hohmann durchaus nicht um den Vorwurf der Regelverletzung, darum, dass man alles tun könne, solange man sich nicht erwischen lasse. Er erhob die drei Fälle zu anschaulichen Exempeln einer in seiner Sicht offenbar grundsätzlichen Malaise: „Viele von Ihnen kennen ähnliche Beispiele, in denen der gewährende deutsche Sozialstaat oder der viele Rechtswege eröffnende Rechtsstaat gnadenlos ausgenutzt wird. Dabei hat der Einzelne, den man früher Schmarotzer genannt hätte, in der Regel kein schlechtes Gewissen. Wohlmeinende Sozialpolitiker aller Couleur haben das individuelle Anspruchsdenken kräftig gestärkt, man kann sogar sagen verselbständigt. […] Wie viele Menschen in Deutschland klopfen ihre Pläne und Taten auch darauf ab, ob sie nicht nur eigennützig, sondern auch gemeinschaftsnützig sind, sie der Gemeinschaft nützen, ob sie unser Land voranbringen?“

Da ist es heraus, das hässliche Wort vom „Schmarotzer“, wie man „früher“ gesagt hätte! Martin Hohmann argumentiert ja nicht, der Wohlfahrtsstaat sei aufgrund der ökonomischen wie demografischen Entwicklung nicht mehr in der Lage, einstmals beschlossene soziale Sicherungen weiterhin zu finanzieren, weshalb Reform wie Umbau der Sozialsysteme unumgänglich seien.

Nein, Hohmann bestreitet vielmehr das Recht, Recht in Anspruch zu nehmen. Unter seiner Hand verwandelt sich das Recht eines Sozialhilfeempfängers auf Gleichbehandlung, das Recht eines Angeklagten auf Verteidigung und umfassende, unparteiische Prüfung seines Falls in „gnadenlosen“ Missbrauch des Rechtsstaates, ohne dass Hohmann bereits an dieser Stelle seiner Intervention kenntlich machte, wie denn der pflichtbewusste Bürger vom „Schmarotzer“ zu trennen wäre. Recht soll, das jedenfalls ist klar, nicht mehr für alle gleichermaßen und ohne Ansehen der Person gelten, sondern nach anderen, augenscheinlich „gemeinschaftsnützigen“ Kriterien gehandhabt werden. Nur, wer der Gemeinschaft nützt, wer „unser Land voranbringt“, soll künftig auf Hilfe und Rechtsschutz hoffen dürfen.

Der Begriff des bonum commune, des „gemeinen Wohls“, ist ebenso alt wie ehrwürdig. In der katholischen Soziallehre reicht das Gemeinwohlkonzept bis auf den Kirchenvater Thomas von Aquin zurück, in etlichen Länderverfassungen ist es verankert, und auch das Grundgesetz unterstreicht die Sozialbindung des Eigentums. Freilich sind für katholische Begriffe und den christlichen Universalismus generell alle Menschen gleich vor Gott, über ihren Wert oder Unwert wird auch nicht auf Erden, sondern erst am Tage des Jüngsten Gerichts von Gott höchstselbst geurteilt.

In einer solchen katholischen, im Wortsinne: allgemein-umfassenden Perspektive denkt der christdemokratische Bundestagsabgeordnete Hohmann allerdings nicht, denn seine Vorstellung vom Gemeinwohl orientiert sich am Nettonutzen des Einzelnen für die Gesellschaft als Ganzes. Damit knüpft er unausgesprochen an eine andere, namentlich utilitaristische Tradition an, die das „gemeine Wohl“ in bestimmten Versionen partikularisiert, also nur ausgewählten Menschen zukommen lassen will.

Einer solchen Deutung entsprechend war es keineswegs abwegig, dass auch das nationalsozialistische Parteiprogramm im Februar 1920 den Satz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ aufnahm: „Erste Pflicht jedes Staatsbürgers“, hieß es unter Punkt 10, „muß sein, geistig oder körperlich zu schaffen. Die Tätigkeit des einzelnen darf nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern muß im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen“, und dann unter Punkt 24: Die NSDAP „bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz geht vor Eigennutz“.

Zwar hatten auch die übrigen Parteien der Weimarer Republik die Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ in ihre Programme geschrieben, aber die NSDAP vermochte sie besonders wirksam zu vertreten, da sie sich im Unterschied zu den Liberalen, Konservativen, Katholiken und Sozialisten mit keiner Klientel verband, sich vielmehr als „junge“, klassenübergreifende „Volkspartei“ präsentierte, die nicht Einzelinteressen repräsentieren wollte, sondern die ganze „Volksgemeinschaft“. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ geriet nach 1933 in den Worten des Staatssekretärs der Reichskanzlei, Dr. jur. Hans-Heinrich Lammers, zum „das gesamte Leben des Volkes beherrschende, alles umfassende und daher von der Staatsführung in den Vordergrund gestellte Glaubensbekenntnis des Nationalsozialismus“.

Die Nationalsozialisten begriffen rasch – und das unterschied ihren Standpunkt fundamental von katholischen oder sozialdemokratischen Sozialtheoretikern –, dass sich mit der griffigen Formel „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ der Rechtsstaat aushebeln ließ. Kraft dieses Satzes konnte die Trennung von privatem und öffentlichem Recht, damit zugleich auch der Schutz der Privatsphäre vor staatlichem Zugriff aufgehoben werden. Unter dem Gemeinwohlpostulat galten individuelle Rechte als eigennützig und wurden zugunsten der „Volksgemeinschaft“ zurückgeschnitten.

Zugleich konnten neue rassistische Grenzen zwischen vormals gleich zu behandelnden Staatsbürgern errichtet werden. Nur wer zur „Volksgemeinschaft“ zählte, durfte am „Gemeinwohl“ teilhaben. Anders als die liberalen und demokratischen Parteien der Weimarer Republik, die den Begriff der „Volksgemeinschaft“ ebenfalls im Munde führten, damit aber eine klassenversöhnlerische, sozial nivellierende, politisch inkludierende Vorstellung verbanden, war der Begriff auf der Rechten vor allem durch eine Praxis der Exklusion bestimmt. Weniger die Frage, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehörte, beschäftigte die Nationalsozialisten, als vielmehr diejenige, wer nicht zu ihr zählte, allen voran die Juden.

„Der Vorstellung, daß die Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts sei“, schrieb Ernst Fraenkel in „The Dual State“, seiner 1941 in den USA veröffentlichten Analyse des NS-Regimes, „entspricht die Lehre, daß es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne“. Und seinen Befund präzisierend, fährt der in die Emigration gezwungene Rechtswissenschaftler fort: „Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.“

Damit schließt sich der Kreis zum Bundestagsabgeordneten Hohmann. „Gerechtigkeit“ soll nach dessen Geschmack eben nur für „Deutsche“ gelten und unter ihnen nicht für „Schmarotzer“, sondern für den Kreis der „pflichtbewussten“ Deutschen. Noch herrscht hierzulande ein anderes Rechtsverständnis, denn, so Martin Hohmann: „Wer seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt, fleißig arbeitet und Kinder großzieht, kann dafür in Deutschland kein Lob erwarten, im Gegenteil, er fühlt sich eher als der Dumme. Bei ihm nämlich kann der chronisch klamme Staat seine leeren Kassen auffüllen.“ Mehr noch: „Leider, meine Damen und Herren, kann ich den Verdacht, dass man als Deutscher in Deutschland keine Vorzugsbehandlung genießt, nicht entkräften.“

Durch drei Anfragen an die Bundesregierung suchte Hohmann seinen „Verdacht“ zu erhärten: Ob die Bundesregierung angesichts der Entwicklung der öffentlichen Haushalte ihre Zahlungen an die Europäische Union einschränken werde? Ob sie sich, nachdem sie Milliarden Euro Entschädigung an ausländische Zwangsarbeiter gezahlt habe, nun auch für deutsche Zwangsarbeiter einsetzen werde? Und ob die Bundesregierung angesichts sinkender Steuereinnahmen ihre Entschädigungszahlungen an „vor allem jüdische Opfer des Nationalsozialismus“, wie Hohmann eigens hervorhebt, reduzieren werde?

Selbstverständlich hat die Bundesregierung sämtliche Fragen verneint bzw. ihre kaum verhüllte agitatorische Intention zurückgewiesen, was Hohmann zu dem von vornherein feststehenden Resümee führte: „Mich haben diese Antworten nachdenklich gemacht und sie bestätigen die in unserem Land weit verbreitete Anschauung: Erst kommen die anderen, dann wir. Überspitzt gesagt: Hauptsache, die deutschen Zahlungen gehen auf Auslandskonten pünktlich und ungeschmälert ein. Dafür müssen die Deutschen den Gürtel halt noch ein wenig enger schnallen.“

Damit legt Hohmann endlich die Kriterien seiner Unterscheidung zwischen pflichtbewussten Staatsbürgern und „Schmarotzern“ offen, die er zunächst im Unklaren gelassen hatte. Die erste Unterscheidung trennt zwischen „Ausländern“ und „Deutschen“, wobei Hohmann erneut leugnet, dass jüdische Staatsbürger des Deutschen Reiches, die vom Staat verfolgt, beraubt und vertrieben wurden und glücklicherweise überlebten, das Recht auf Entschädigung besitzen. Auch bestreitet er Ausländern, die ihre Freiheit einbüßten, zur Arbeit gezwungen, unter elenden Bedingungen festgehalten und um ihren rechtmäßigen Lohn geprellt wurden, das bürgerliche Recht auf Schadenersatz.

Dass sich die Höhe der Entschädigung nicht nach dem Schaden, sondern nach der aktuellen Zahlungskräftigkeit des Schuldners richten soll, offenbart schließlich auf geradezu infame Weise Hohmanns verdrehtes Rechtsverständnis.

Die zweite Differenz betrifft die deutsche „Volksgemeinschaft“ selbst, in der zwischen denjenigen, die „fleißig arbeiten und Kinder großziehen“ auf der einen Seite und den „Arbeitsscheuen“ und „Schmarotzern“, wie man „früher“ gesagt hätte, auf der anderen Seite unterschieden wird. Hohmann zieht scharfe Grenzen, unterteilt die Bürger in Gemeinschaften diesseits und jenseits des Rechts. Den einen mag „Viagra“ zustehen, den anderen bestimmt nicht; die einen dürfen sich als „Deutsche“ der Staatshilfe erfreuen, für die anderen ist sie an den Ort gebunden, wo sie sich aufhalten; für die einen gilt der rechtliche Schutz des Individuums, für die anderen nicht.

Was Hohmann hier propagiert, ist nichts anderes als die Ethnifizierung und Utilitarisierung des Rechts. Allein Deutsche und unter ihnen nur die Arbeitswilligen und Fruchtbaren dürfen seinem Blickwinkel zufolge am „Gemeinwohl“ teilhaben, nur für sie soll Recht gelten. Von den Prinzipien des bundesrepublikanischen Grundgesetzes hat sich diese Rede weit entfernt. Sie ist nicht allein antisemitisch, sondern gegen Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit überhaupt gerichtet.

Ganz unverhohlen fordert MdB Hohmann die Rückkehr der Volksgemeinschaft.

Es handelt sich hier um eine gekürzte Fassung eines Essays, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Mittelweg 36“ erscheint.Michael Wildt ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Von ihm ist 2002 in der Hamburger Edition erschienen: „Generation des Unbedingten. Das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes“.