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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Unter Strom im Westen

Einst wohnte ich in einer Wohnung ohne fließendes Wasser. Später floss es zwar – aber in eine Wanne ohne Erdung

Im Osten führte ich ein ziemlich eingeschränktes Leben. Ich meine nicht die Reisefreiheit, sondern Fliesen, Badarmaturen und so Zeugs. Weil alles Baumaterial in die Errichtung des Sozialismus gesteckt wurde, haperte es an allen Ecken und Enden. Als ich Mitte der 80er-Jahre in Leipzig studierte, zog ich mit viel Getrickse eine Wohnung an Land, die keine Wanne, keine Dusche – nicht mal einen Wasseranschluss hatte.

Meine zwei Zimmer waren kurz nach dem Krieg von der eigentlichen Wohnung abgetrennt worden. Leider achtete bei dieser Form der Wohnraumbeschaffung niemand darauf, den neuen Wohnungsteil mit Wasser zu versorgen. Auf dem Hausflur war ein wackliger Holzkasten, in dem sich ein Uraltwasserbecken verbarg. Das war meine Wasserversorgung. Zweimal in der Woche fuhr ich zu einer Freundin, die ein großes Bad hatte, um mich halbwegs sauber zu halten.

Aber dann im Westen, was für ein Reichtum! Fließendes Wasser rund um die Uhr, warm und kalt, Badewannen und Duschen in allen Formen und Farben! Bald nach dem Mauerfall zog ich in eine Wohngemeinschaft im schicken Berlin Charlottenburg. Kurz nach meinem Einzug wurde das Bad komplett saniert. Kacheln, Wanne, Elektrik, alles neu. Schnell gewöhnte ich mich an den Luxus. Doch dann, an einem 11. März, ich werde es nie vergessen, weil es mein Geburtstag ist, spielte mir das tolle Westbad übel mit. Dem Anlass gebührend setzte ich mich in die Wanne, drehte den Brausekopf auf, ließ mir das Wasser über die Haut laufen und seifte mich ein. Auf einmal passierte etwas Schreckliches. Meine rechte Hand, die die Brause hielt, begann wie wild zu zittern und schien gleichzeitig am Brausekopf zu kleben. Eine magische Kraft verband mich mit dem Brausekopf. Der rechte Arm spannte sich wie Sau an und tat tierisch weh.

Mir wurde himmelangst. „Raus, sofort hier raus!“, dachte ich. Doch wie? Ich saß in der Wanne und mein rechter Arm gehorchte nicht mir, sondern dem Brausekopf. Der Krampf im Arm wurde immer stärker und ich dachte, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Ich hatte panische Angst. Mir schoss ein Satz durch den Kopf, den ich nie vergessen werde. „Scheiße, ich hatte doch noch so viel vor.“ Dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit blutenden Knien neben der Wanne.

Langer Rede kurzer Sinn: Ich hatte einen Stromschlag erlitten. Die Ärzte im Krankenhaus beglückwünschten mich zu meiner Konstitution und schüttelten mir meine schmerzende rechte Hand. Zum Glück trug ich keine bleibenden Schäden davon. Kaum hatte ich die Klinik verlassen, ging die Ursachenforschung los. Es dauerte einige Tage, bis geklärt war, woher der Strom gekommen war. Neben dem Bad war die Küche und dort stand die Waschmaschine. Die alte Steckdose dazu war nicht geerdet und so war der Entladestrom ins Bad gewandert und hatte sich an mir entladen. Weil die neue Badewanne auch nicht geerdet war.

Ja, ja, der Westen. Dort gibt es alles, doch die Leute wissen nicht, damit umzugehen. Hätte mich in den USA ein Stromschlag ereilt, weil eine Firma gepfuscht hat, ich hätte jetzt mindestens zehn Badezimmer. Aus Marmor und mit goldenen Wasserhähnen. Doch in Deutschland sieht es mit Schmerzensgeldklagen leider mau aus.

Ich war froh, überlebt zu haben. Ich wollte aber, dass die Firma dichtmacht. Doch ich konnte ihr Versagen nicht beweisen. Denn als ich aus dem Krankenhaus gekommen war und es im Bad aussah wie in einem Filmabspann – Blut auf den Fliesen, nasses Handtuch vor der Wanne, Leiche weg –, bekam ich Panik. Ich traute mich nicht, auch nur einen Lichtschalter anzufassen.

Da traf es sich gut, dass im Hof einige Bauarbeiter rumwerkelten. Ich stürzte runter, holte sie in die Wohnung und erzählte, was passiert war.

Sie inspizierten die Wanne, einer pfiff durch die Zähne und sagte: „He, da fehlt ja die Erdung.“ Im Handumdrehen holte er das nach. Das war mein Pech. Denn die Handwerker waren von derselben Firma, die das Bad „saniert“ hatte.

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHN FRAGEN AN ROTKÄPPCHEN? kolumne@taz.de. Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN