„Zu lang in der Opferrolle“

Eine überforderte, betagte Mutter erstickte in Steilshoop ihre behinderte Tochter. Wer hätte diese Tat verhindern können? Ein Gespräch mit Martin Eckert von „Leben mit Behinderung Hamburg e. V.“

MARTIN ECKERT ist Geschäftsführer von „Leben mit Behinderung Hamburg e. V.“, einem Zusammenschluss von 1.350 Eltern von Kindern mit Behinderung.

INTERVIEW MARCO CARINI

taz: Herr Eckert, wie kann es geschehen, dass trotz aller staatlichen Hilfsangebote eine Mutter die von ihr betreute schwerbehinderte Tochter tötet? Martin Eckert: Ich kenne den Hintergrund dieser Tragödie nicht. Es sieht aber so aus, als ob die Familie den fatalen Weg gegangen ist, mit ihrer Situation ohne fachliche Hilfe klarkommen zu wollen und in einer Rolle des Sich-Opferns für das Kind verharrt ist. Dass sich Angehörige von Menschen mit Behinderungen so in eine Sackgasse manövrieren, erleben wir vor allem bei der älteren Generation.

Woran liegt das?

Es gibt dort die Haltung, Behinderung in der eigenen Familie als ganz individuelles und privates Thema zu begreifen. Diese Haltung führt in solche Sackgassen, weil es irgendwann ohne Hilfe von außen nicht mehr geht. Jüngere Eltern organisieren sich viel eher Hilfe. Es gibt viele ambulante und stationäre Angebote in Hamburg, die auch dieser Familie hätten helfen können.

Etwa Wohngruppen für Menschen mit Behinderungen.

Dass die Getötete noch als 52-Jährige bei Mutter und Vater gelebt hat, ist höchst problematisch. Menschen mit Behinderungen müssen ihren eigenen Weg in eine größtmögliche Selbständigkeit und die eigenen vier Wände, etwa in einer Wohngruppe, gehen. Geschieht das nicht, bleiben sie von ihren Eltern und deren gesundheitlichem Zustand in höchstem Maße abhängig. Jeder schwerbehinderte Mensch hat zudem das Anrecht auf eine Arbeit in einer Werkstadt oder Tagesstätte.

Wie oft kommt es vor, dass Eltern sich nicht von ihren schwerbehinderten Kindern lösen und sich abschotten?

Im Stadtteil Steilshoop hat am Wochenende eine 78-jährige Frau ihre 52-jährige, bei ihr und ihrem Mann lebende, geistig schwerbehinderte Tochter erstickt. Die geständige Täterin rief selbst einen Arzt, der die Tat der Polizei anzeigte. Nachdem ihr zwei Jahre älterer Mann Anzeichen von Altersdemenz zeigte, war der Frau ihre Situation offensichtlich über den Kopf gewachsen. Sie wurde vorübergehend in die Psychiatrie eingewiesen. Ob die Familie sozial oder rechtlich betreut wurde, ist unklar. „Wir recherchieren das, geben zu Einzelfällen aber keine Auskunft“, sagte Sozialbehördensprecherin Jasmin Eisenhut am Dienstag.  MAC

Wir kennen Fälle, wo sich Menschen erst aufgrund eines ganz späten Zufalls dem Hilfesystem öffnen. Oft passiert das, wenn die Kinder volljährig werden und eine rechtliche Betreuung eingerichtet werden muss. Das kann dann der Einstieg in eine Struktur der helfenden Begleitung werden. Wir haben es erlebt, dass Mütter die Betreuung ihrer behinderten Kinder zu ihrem zentralen Lebensinhalt machen und nicht bereit sind, sie aus ihrem Lebensraum zu entlassen. Da gestalten Angehörige ihr Leben nicht mehr aktiv, sondern verharren in einer Opferrolle, die keine eigene Lebensperspektive mehr bietet.

Hätte die Tragödie durch staatliche Kontrolle verhindert werden können?

Bei Menschen mit schwerer Behinderung werden oft die Eltern als rechtliche Betreuung eingesetzt, dabei aber von Rechtspflegern begleitet – das ist Hilfe und Kontrolle zugleich. Hier stellt sich die Frage, wer beauftragt war und welche Kenntnisse man über die Lebenssituation der Familie gehabt hat. Erst dann lässt sich sagen, ob dieses Desaster hätte verhindert werden können.