: Uncool ist wirklich cool
Familiengeschichten: Heute lesen in der Galerie „Das Wohl“ Andreas Münzner, Silke Stamm und Britta Günther
Es gibt eine Zeit, die vor der lustvoll verschwendeten Jugend liegt. Nach Neo-Beat und -Pop rücken wieder mehr Schreibende dieses Davor ins Zentrum ihrer literarischen Texte. Nicht alle gehen dabei bis in die Nachkriegszeit zurück. Heute Abend lesen in der Galerie „Das Wohl“ drei AutorInnen, die sich jener Zone der institutionalisierten Sparsamkeit, die Familie heißt, in den 70er Jahren widmen.
Andreas Münzner – wie die anderen beiden Mitglied im Forum junger Autorinnen und Autoren Hamburg – vermaß bereits in einem Roman eine großbürgerliche Schweizer Kindheit zwischen weißen, rechteckigen Wänden und ebensolchen Tischen, die man nicht unangekündigt verlassen darf; zwischen Türen, die man nicht schließen und Postern, die man nur an einer Schiene aufhängen darf und daher lieber gar nicht. Der übermächtige Vater macht hier die Räume so eng, dass sich der Junge mit der Familie in einer Kapsel wähnt. Die Höhe der Alpen ist aus der Perspektive des Kindes geschrieben, gewöhnlich rutscht der Ton bei so etwas gern ins Larmoyante. Doch Münzners Erzähler notiert die väterlichen Einimpfungen, die das Vergangene so gegenwärtig halten, dass es nur im Präsens wiedergegeben werden kann, eher nüchtern und manchmal ironisch. Heute wird Münzner nicht aus dem Roman, sondern Lyrik lesen.
Abgeschlossener erscheint die Zeit der Familie im Präteritum der Kurzgeschichten, die Britta Günther und Silke Stamm präsentieren. In Stamms „Nichts zu essen“ blickt eine Erstsemesterin von der Groß-WG, in die sie gerade gezogen ist, zurück auf eine Pubertät in den 70er Jahren, in der das Aufbegehren keine Worte fand und sich erst in der späteren Bitte an die Mutter Luft machen kann, ihr nichts mehr zu essen mitzubringen. Gegen die Meinungsimplantate der Eltern – „zu viele Halbnackte“ – ist aber auch in dieser Erzählung kein Kraut gewachsen.
Nicht das berichtende Kind, sondern die anderen, der Vater, die Mutter, die ältere Schwester, stehen im Mittelpunkt von Britta Günthers Erzählung „Perlen, Perlen“: Eine vom Vater mitgebrachte Handtasche im Wert von „zweihundert Ditschern“ erschüttert an einem einzigen Abend deren eigentlich wohlaustarierte Ökonomie von Wünschen und heimlichen Enttäuschungen derartig, dass sie am nächsten Tag wieder in den Laden zurückgetragen werden muss. Die vom Verborgenen noch ahnungslose Sprache des Mädchens sorgt dabei für einen angenehm registrierenden Tonfall.
Selbstmitleid findet man in keinem dieser Texte, aber ebenso wenig coole Leute, die sich mit Musik oder Drogen befreit haben. Christiane Müller-Lobeck
Lesung: heute, 21 Uhr, Galerie „Das Wohl“, Wohlwillstr. 24