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Archiv-Artikel

Paris: Länger arbeiten bei weniger Rente

Die französische Regierung stellt Teile ihres neuen Rentengesetzes vor. Die Gewerkschaften rufen zum Streik auf

PARIS taz ■ Länger arbeiten – weniger Rente erhalten. Das ist die Quintessenz der Rentenpolitik, mit der die französische Regierung das Loch in den Sozialkassen stopfen will. Gestern stellte Arbeitsminister François Fillon erste Teile seines Rentengesetzes im Ministerrat vor. Zunächst hat er die 5,5 Millionen Beamten im Visier. Ihre Arbeitszeit will er von 37,5 auf 40 Jahre verlängern – wie es in der Privatwirtschaft bereits 1993 geschah. Doch schon ab 2008 sind sämtliche Beschäftigte betroffen. Im Fünfjahresrhythmus soll ihre Lebensarbeitszeit verlängert werden. Die Regierung will ihr Vorhaben im Eiltempo durchpauken. Nachdem sie monatelang gezögert hat, Einzelheiten bekannt zu machen, soll das Parlament jetzt noch vor der Sommerpause über das Rentengesetz abstimmen.

„Wenn wir jetzt nichts tun, ist das eine Bombe für die künftigen Generationen“, erklärt Arbeitsminister Fillon die Eile und die Radikalität bei den Einschnitten in das 1945 geschaffene französische Rentensystem. Nachdem die letzte rechte Regierung von Alain Juppé im Winter 1995 bei demselben Vorhaben an den sozialen Protesten gescheitert ist, versichert Premierminister Jean-Pierre Raffarin, dass seine Entschlossenheit „unwiderruflich“ sei. Er appelliert an die „Solidarität“ und den „Gemeinsinn“ seiner Landsleute. Und nennt als einzigen Trost die angeblich ständig wachsende Lebenserwartung im Lande.

Doch bislang ist allein der Unternehmerverband Medef zufrieden mit dem Vorhaben. Endlich bringe eine Regierung den Mut auf, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, lobt Medef-Vorsitzender Ernest-Antoine Seillière. Alle anderen sozialen Organisationen reagieren empört. Der Vorsitzende der größte Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault, rechnet vor, dass die Renten zwischen den ersten Einschnitten in der Privatwirtschaft im Jahr 1993 und dem Jahr 2020 dramatisch sinken werden: 20 Prozent für Beamte und 30 Prozent für die übrigen Beschäftigten. FO-Chef Marc Blondel stellt fest, dass diese Regierung „sozial schwerhörig“ sei und die zahlreichen Alternativvorschläge aus den Gewerkschaften nicht zur Kenntnis genommen habe. Selbst die CFDT, die im Prinzip positiv gegenüber einer Rentenreform eingestellt ist, verlangt deutlich mehr von der Regierung.

In seltener Einmütigkeit rufen sechs Gewerkschaften für den 13. Mai zu einem Streik gegen das Regierungsvorhaben auf. Die 1.-Mai-Demonstrationen, bei denen die Rentenabsicherung im Mittelpunkt stand und die in diesem Jahr besonders groß waren, haben gezeigt, dass die Sensibilität da ist.

Die Gewerkschaften bezweifeln sogar die statistischen Grundlagen der Rentenpläne der Regierung. „Die Lebenserwartung eines Facharbeiters ist sieben Jahre niedriger als die eines Fabrikdirektors“, stellt CGT-Chef Thibault fest. Und fügt hinzu, dass der Druck im Arbeitsleben angesichts zunehmender prekärer Arbeitsverhältnisse gerade am unteren Rand der Lohnskala immer härter wird. FO-Kollege Blondel erinnert daran, dass die Beschäftigten heute maximal 37 Jahre lang arbeiten können: „Dann schicken die Unternehmer sie in den Vorruhestand“.

Erhöhungen der Rentenbeiträge zur Finanzierung des Defizits wollte die Regierung vermeiden. Begründung: Schon jetzt seien die Abgaben für Unternehmer zu hoch. Ein großer Teil der Beschäftigten wäre jedoch bereit, höhere Beiträge in Kauf zu nehmen. Das zeigen verschiedene Umfragen. Die CGT weist zudem darauf hin, dass die Produktivität rasant steige, und schlägt vor, das Kapital „und die Globalisierungsgewinne“ zu besteuern.

Alle Gewerkschaften bezweifeln die Solidität des finanziellen Kalküls, das der Rentenpolitik der Regierung zugrunde liegt. Arbeitsminister Fillon will 9 Milliarden Euro aus den Arbeitslosenkassen abzweigen, um den größten Teil des Rentendefizits (von insgesamt 15 Milliarden Euro bis 2020) zu decken. Doch dabei geht er – entgegen allen gegenwärtigen Prognosen – von Wirtschaftswachstum und vom Sinken der Arbeitslosenzahlen aus. Zugleich könnte seine eigene Regierung dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit noch beträchtlich zu erhöhen. Laut Premierminister Raffarin erwägt sie einen „statistisch seriösen“ Vorschlag von Finanzminister Francis Mer – als Arbeitshypothese. Mer hatte geraten: „Nur jeden zweiten Beamten zu ersetzen, der in Rente geht“. DOROTHEA HAHN