: Das älteste Korn der Welt
Wer ist schneller: Die Weltbevölkerung oder der Reis? Eine gute Frage, denn die Kulturpflanze ernährt weit über die Hälfte der ständig wachsenden Menschheit. Doch trotzdem wird Reis immer noch hauptsächlich von Kleinbauern angebaut
VON MANFRED KRIENER
Grün, feucht und heiß. Der Reisanbau verbindet sich für uns Europäer wie kein anderes Bild mit dem asiatischen Kontinent. Überflutete Felder, sattes Grün und gebeugte Menschen mit riesigen Strohhüten, die im knöchelhohen Wasser wie Fließbandarbeiter die jungen Setzlinge in den Schlamm stecken: Seit Jahrtausenden steht diese Szenerie auf den Reisfeldern gleichermaßen für Fleiß und Armut, für eine uns fremde Form archaischer Landwirtschaft. Wenn die Kamera das faltige Gesicht des alten Reisbauern heranzoomt, blickt uns ein Universum entgegen, das mit unserer Wohlstandsinsel so gar nichts zu tun hat.
Fast zwei Drittel der Weltbevölkerung ernähren sich von den fruchtbaren Rispen des Sumpfgewächses mit dem lateinischen Namen Oryza sativa. Reis ist für Millionen Menschen an vielen Tagen das einzige Nahrungsmittel. Trotz Tigerstaaten und japanischem High-Tech, trotz koreanischen Autos und neuer chinesischer Wirtschaftsmacht ist Reis die Pflanze der Armut geblieben. Sie liefert das wichtigste Korn auf Erden, von dem uns schon eine Hand voll satt macht.
Die Weltjahresproduktion lag zuletzt bei 590 Millionen Tonnen. Aber nur 25 Millionen Tonnen kommen auf den Weltmarkt. Anders als Weizen wird Reis zu mehr als 95 Prozent in den Anbauländern verzehrt.
Viele Asiaten essen dreimal täglich Reis. Er gehört zu jeder Tafel, und das japanische Wort gohan bedeutet denn auch gleichzeitig „Mahlzeit“ und „Reis“. In den sechs Hauptanbauländern China, Indien, Indonesien, Bangladesch, Vietnam und Thailand werden fünfzig bis achtzig Prozent des täglichen Kalorienbedarfs mit Reis gedeckt.
Asiaten, heißt es, würden hungrig vom Tisch aufstehen, wenn es keinen Reis gibt, egal wie viele andere Genüsse auf dem Teller liegen. Ein Essen ohne Reis, sagt eine chinesische Weisheit, ist wie eine einäugige Schönheit.
Reis ist der „Erhalter der Menschheit“ (Sanskrit), das älteste Getreide überhaupt. Noch ist nicht endgültig geklärt, ob China wirklich die Heimat dieser Pflanze ist. Waverley Root berichtet in ihrer kulinarischen Enzyklopädie, dass bei Ausgrabungen im Norden Thailands Reiskörner aus der Zeit von 3500 v. Chr. entdeckt wurden. Der älteste Beleg für gezüchteten Reis datiert 7.000 Jahre zurück und stammt aus einem chinesischen Dorf am Rande eines Sumpfgebiets nahe dem heutigen Schanghai.
Reis wird in 115 Ländern auf hundert Millionen Hektar angebaut, gilt aber seit Jahrtausenden als Pflanze der asiatischen Pazifikregion. Sie ist traditionell in jenen Gebieten der Erde zu Hause, die regelmäßig vom Monsunregen überflutet werden.
Das einjährige Gras mit seinen bis zu 1,8 Meter hohen Halmen bildet als Blütenstand eine Rispe aus, die das Korn liefert. Jungpflanzen werden in Saatbeeten herangezogen und vertragen in dieser Zeit nur wenig Feuchtigkeit. Erst nach der Anzucht bekommen sie, ausgepflanzt in aufgestauten Feldern, einen nassen Fuß. Auf 10.000 Sorten wird die Vielfalt der Reispflanze heute geschätzt.
Knapp achtzig Prozent der Weltreisernte wachsen auf den gefluteten Feldern in der Ebene. Der anspruchslose, weniger temperaturempfindliche, „trockene“ Bergreis, der bis in 2.500 Meter Höhe kultiviert werden kann und lediglich regelmäßigen Regen braucht, liefert die restlichen zwanzig Prozent.
Wie keine andere Pflanze ist Reis mit dem Problem des Welthungers verbunden. Und mit der bangen Frage: Was wächst schneller: die Pflanze oder die Weltbevölkerung? Das Einsetzen des Monsuns und die Tonnage der Reisernte werden in jedem Jahr ängstlich dokumentiert, denn die Ertragszahlen entscheiden über Leben und Tod. Und wie bei keinem anderen Getreide wächst der Druck zu immer größeren Ernten und neuen Hochertragssorten.
Seit 1950 ist die Weltreisernte von 261 Millionen Tonnen auf mehr als das Doppelte angestiegen. Doch die Bevölkerung Asiens nimmt im Durchschnitt um jährlich 1,8 Prozent zu, bis 2025 um rund vierzig Prozent.
Kann der Reis mit diesem Tempo Schritt halten? Kann die Weltreisernte auf siebenhundert oder achthundert Millionen Tonnen gepuscht werden, wenn in Zukunft weniger Land und vor allem noch weniger Wasser zur Verfügung stehen wird?
Nicht nur die Welternährungsorganisation FAO, die 2004 zum Jahr des Reises erklärt hat, ist überzeugt, dass die Selbstversorgung für die meisten asiatischen Staaten in den nächsten zwanzig Jahren schwierig wird. China, mit hundertachtzig bis zweihundert Millionen Tonnen der mit Abstand größte Reiserzeuger, musste seine Einfuhren in den letzten Jahren ständig erhöhen.
Die grüne Revolution und die erfolgreiche Züchtung einer besonders ertragreichen, kurzhalmigen Reisvarietät in Taiwan hat in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Ernten sprunghaft steigen lassen. Doch schon Mitte der Neunzigerjahre häuften sich Berichte über den langsam zurückgehenden Produktivitätsfortschritt.
Seit Beginn der Neunzigerjahre sind auch die Kosten der Reisfarmer deutlich gestiegen. Für denselben Ertrag muss auf den Feldern immer mehr Dünger eingesetzt werden. Bei reduzierter Nährstoffversorgung liegt die Erntemenge gerade noch auf dem Niveau von Anfang der Siebzigerjahre. Viele Böden sind vergiftet oder mit Urin überdüngt.
Auch der Krieg gegen Schädlinge und Pilzkrankheiten ist im feuchten Klima schwer zu gewinnen. 75 Insektenarten, 45 Pilzkrankheiten, 10 bakterielle und 15 virale Plagen sind als Hauptfeinde des zarten Grases identifiziert. Die Pflanzenzüchter konzentrieren sich auf die Abwehr von Krankheiten.
Doch man will sich auch anders helfen: Zweites großes Zuchtziel ist die Erzeugung neuer Turbosorten, die den derzeitigen Ertrag von – je nach Lage – vier bis zehn Tonnen je Hektar steigern sollen. Hybridreis, der als Kreuzungsprodukt aus extremen Inzuchtlinien stammt, wird vor allem in China auf großen Flächen angebaut. Er reduziert das genetische Reservoir und damit die Abwehrkräfte der Pflanze.
Nicht ohne Risiko. „Die genetische Uniformität der modernen Sorten macht die Ernte anfällig für Krankheiten und Schädlinge“, warnt die FAO. Zugleich wächst auf dem Reißbrett der Geningenieure ein neuer Superreis heran: Größere Rispen sollen dann zweihundert statt der bisherigen hundert bis hundertzwanzig Reiskörner liefern. Die Pflanze soll weniger Kraft fürs Höhenwachstum verbrauchen und dafür dickeres Korn ansetzen.
Erträge von 13 bis 15 Tonnen je Hektar werden angepeilt bei gleichzeitiger Resistenz gegen wichtige Krankheiten und verringertem Wasserbedarf. Schön wär’s. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In den meisten Anbauländern ist selbst einfaches Saatgut nicht in ausreichender Menge verfügbar, oder die Bauern können es sich nicht leisten. So wird auf achtzig Prozent der Flächen eigenes Korn der Vorjahrsernte ausgesät.
Abseits von den Verheißungen der Gentechnik feiert die gemischte Reis-Fisch-Wirtschaft ein Comeback, mit dem gleichzeitig Protein und Korn erzeugt werden können. Bei den natürlichen Überflutungen der Felder in der Regenzeit ist das Eindringen von Fischen unvermeidbar. Bestimmte Arten fühlen sich in dem seichten Wasser wohl und gedeihen in bester Koexistenz mit dem Reis. Die Reiserträge sollen bei Fischbesatz um bis zu 15 Prozent höher ausfallen.
Im Idealfall fressen die Fische – vor allem Karpfen und Barben – Wasserpflanzen, Unkräuter und Phytoplankton, die sonst als Konkurrenten den Ertrag der Reispflanze dezimieren. Gleichzeitig sind die Fischexkremente ein wertvoller Dünger. Vor allem in China werden auf immer mehr Feldern gezielt Jungfische eingesetzt. Die Reis-Fisch-Kultur stieg im bevölkerungsreichsten Land der Erde von 300.000 Hektar Anfang der Achtzigerjahre auf inzwischen 1,5 Millionen Hektar. Auch Shrimps werden erfolgreich in den Reisfeldern gehalten. Ernährungswissenschaftler propagieren mit diesen Entwicklungen eine uralte Methode, die schon in der mittleren Han-Dynastie 100 n. Chr. verbreitet war.
Der Haken: Der Reis wird mit toxischen Pestiziden besprüht, die sich in den Fischen anreichern und dann auf dem Teller landen. Die Reis-Fisch-Kultur ist sicher kein Patentrezept. Aber zumindest kann sie die ökonomische Situation der vielen kleinen Reisbauern verbessern.
Während unser Getreideanbau und -handel Big Business ist, gehört der Reisanbau noch zur Domäne der Kleinbauern. Sie sichern mit ihrer Hände Arbeit vier Fünftel des Weltertrags einer alten, unscheinbaren Sumpfpflanze.
Ex-taz-Redakteur Manfred Kriener, 50, hat im September 1997 die „Sättigungsbeilage“ eingeführt und serviert sie seitdem einmal monatlich im taz.mag gemeinsam mit einer Hand voll Autoren