: Pullachs Mauerfall
aus Pullach JÖRG SCHALLENBERG und VOLKER DERLATH (Fotos)
006. Das ist tatsächlich die Nummer des Besucherausweises: 006. Sollte ein Geheimdienst so viel Witz besitzen? Dabei sieht der Wachmann hinter der Panzerglasscheibe, der den grünen Ausweis mit der Doppelnull im Austausch gegen den Personalausweis herausschiebt, doch reichlich humorlos aus. Ist er auch. Genauso wie seine Kollegen. Aber dazu später mehr. Erst einmal freut man sich natürlich über den Ausweis, gewährt er doch den Zugang zu einer Adresse, die Außenstehenden jahrzehntelang verschlossen war.
Heilmannstraße 30 in 82049 Pullach i. Isartal: Hier residiert, rechts und links der Straße, seit 1947 die „Bundesverwaltung, Abteilung Sondervermögen“, von der natürlich jeder im Ort wusste, dass es sich anfangs um die nach ihrem Chef benannte „Organisation Gehlen“, später dann um den Bundesnachrichtendienst handelte. Mittlerweile macht ein großes, blaues Schild vor dem Haupteingang auch jedem Hilfsspion klar, dass hier der deutsche Auslandsgeheimdienst sitzt. Etwas mehr Offenheit hat der seit 1998 amtierende BND-Präsident August Hanning seiner Behörde verordnet, aber die gut vier Kilometer langen Mauern und Wände sind samt dem Stacheldraht natürlich geblieben. Kameras überwachen jeden Meter der Umgebung, Fotografieren ist ohne Genehmigung strengstens verboten und uniformierte Wachleute in zivilen Fahrzeugen umkreisen Tag und Nacht das 78 Hektar große Gelände. Sie tragen Pistolen und kugelsichere Westen.
So ist der BND immer noch weit vom Alltag einer normalen Bundesbehörde entfernt – doch andererseits strömen an diesem Freitagnachmittag unaufhörlich Autos aus dem Gelände auf die Heilmannstraße hinaus. Auch beim Geheimdienst gilt die Gleitzeit, und ab 14 Uhr dürfen sich die meisten Mitarbeiter ins Wochenende verabschieden, erklärt Pressesprecherin Manuela Reipen. Deswegen erhält man als Journalist auch genau für diese Uhrzeit eine Besuchserlaubnis – damit man so wenig BNDler wie möglich zu Gesicht bekommt. Also doch wieder Tarnung und nicht normale Behörde.
Immerhin ist überhaupt noch jemand da. Bis 2008, so hat es die Bundesregierung verfügt, soll der Geheimdienst komplett nach Berlin umsiedeln, damit er näher an den politischen Entscheidungsträgern sitzt.
Irgendwie wirkt dieser Gedanke befremdlich. Seit es die Bundesrepublik gibt, stand der Pullach für den BND und der BND für Pullach. Einst hatte Reinhard Gehlen, der unter Hitler für die Feindaufklärung im Osten zuständig war, das Gelände ein paar Kilometer südlich von München in Beschlag genommen. Im Dritten Reich hatte die NSDAP dort die so genannte „Rudolf-Heß-Siedlung“ aufgebaut, benannt nach Hitlers Stellvertreter. Die Lage fernab vom bundesdeutschen Regierungssitz in Bonn signalisierte aber immer auch die gewollte Distanz zwischen Politik und Geheimdienst, und so verfestigte sich nach dem Bekanntwerden einer Reihe schöner Pannen im Laufe der Jahre der Ruf von den niedlichen „Schlapphüten“ aus Pullach, die irgendwo an der Isar James Bond spielen.
So ähnlich betrachtete man den geheimnisvollen Nachbarn auch in Pullach selbst. Bis in die 90er-Jahre hinein schottete sich der BND völlig ab und ließ nicht einmal die Gemeindeoberen aufs Gelände. Auch Walter Mayer nicht. Er wohnt schon seit Urzeiten in Pullach, und eigentlich weiß der zweite Bürgermeister der Gemeinde über seine rund 9.000 Einwohner gut Bescheid, aber wer nun beim BND arbeitet, kann er bis heute nur ahnen. „Vielleicht so um die 200 Leute“, schätzt Mayer. „Oft habe ich das erst nach der Pensionierung erfahren.“ Selbst dann aber durften die meisten nichts Genaues über ihr Arbeitsleben berichten. Nachdem BND-Präsidenten wie Hansjörg Geiger und Konrad Porzner die Tore in den Neunzigerjahren ein wenig öffneten, wurde der Bürgermeister einige Mal überrascht: „Da kannte man jemandem jahrelang aus dem Ort – und dann wurde der Ihnen bei einem Besuch beim BND plötzlich mit anderem Namen vorgestellt.“
Für die Mehrzahl der einst über 6.000 BND-Beschäftigten galt jahrelang die Anweisung, sich nicht direkt im Ort niederzulassen. Anfangs trug zudem jeder Geheimdienst-Angestellte einen Decknamen, auch die Privatautos hatten falsche Kennzeichen. Heute gelten diese Vorschriften nur noch für die oberen Dienstränge.
Wenn nun früher ein Pullacher und ein BND-Mitarbeiter in einen Autounfall verwickelt waren, wurde es kompliziert, ein ordentliches Unfallprotokoll hinzubekommen. Der BND-Mitarbeiter hatte einen Decknamen, ein Deck-Kennzeichen und oft auch Deckautos, um unerkannt zum Dienst zu kommen.
Über die ewige Geheimniskrämerei kann Walter Mayer noch lächeln, aber sonst sieht er plötzlich sehr müde aus, wenn er etwas zum Verhältnis zwischen Pullach und seinem Alter Ego BND erzählen soll. Dann dreht er seine Brille in der Hand, blickt aus dem Fenster des Rathauses in die Sonne hinaus und spricht vom „guten Nachbarn, den wir mit dem Wegzug des BND“ verlieren. Es klingt ungefähr so glaubhaft wie anderswo die verächtliche Redewendung von „unseren lieben ausländischen Mitbürgern“. Protestiert gegen den Umzug haben bislang nur Nicht-Pullacher wie Bayerns Ministerpräsident, der Wolfratshausener Edmund Stoiber. Womöglich fürchtet er um die traditionell blendenden Kontakte zwischen BND und CSU-Spitze.
Mayer ist zwar auch Mitglied in der CSU, aber ihm kann man kein bedauerndes Wort entlocken. Er hätte sich für sein Pullach, das sich so schön über mehrere Kilometer am dichten Grün des Isartals entlang erstreckt, schon immer eine bessere Werbung vorstellen können als diese endlose graue Wand mit dem in Beton gepressten Bundesadler neben dem Eingang. Er hofft auf das, was nach dem Umzug kommt. Der Bebauungsplan hier im Speckgürtel von München, wo selbst das Gemeindehaus eine Restaurant-Terrasse hat und man in der öffentlichen Tiefgarage die ersten fünf Stunden umsonst parken darf, sieht schließlich „lockere Villenbebauung und nicht-störendes Gewerbe“ vor. Muss Uschi Glas nach der Scheidung nicht umziehen? War Rudolph Moshammer die Miete in der Münchner Maximilianstraße für sein Geschäft nicht schon lange zu teuer? Man könnte sich beide hier gut vorstellen.
Die Anwohner in der direkt an das Gelände angrenzenden Siedlung „Am Grundelberg“ sind gespannt auf die Neugestaltung. „Vielleicht kann man da ja kulturell was machen“, sagt eine junge Frau, die Nachbarin wünscht sich „ein Naherholungsgebiet mit Biergarten“, doch ein älterer Mann hat schon von einem US-Konzern gehört, der Interesse angemeldet haben soll: „Das kauft doch der Ami!“ Gerüchteküche Pullach: Jahrzehntelang hat man sich die Köpfe heiß fantasiert, was wohl hinter den dicken Wänden geschieht, jetzt darf man plötzlich davon träumen, wie es hier ohne Mauer aussieht. „Fast wie in Berlin bei der Wende“, sagt ein Spaziergänger. Nur Frau Fromm, 75, bedauert den Weggang der Schlapphüte ein wenig: „Das war hier doch der sicherste Ort im ganzen Land. Nicht mal sein Fahrrad hat man abschließen müssen.“
Auf der anderen Seite der Mauer hat man die Entscheidung der Bundesregierung nicht so locker genommen. Gegenüber den örtlichen Zeitungen äußerten sich BND-Mitarbeiter anonym voller Wut über den Entschluss zum Umzug, der sie unvermutet per Sammel-E-Mail traf – an einem Freitagnachmittag um 15 Uhr. Auch wenn man nicht genau weiß, wo sie wohnen, so haben sich doch viele ihre Existenz in der Nähe aufgebaut und verspüren jetzt wenig Lust, aus dem gemütlichen Oberbayern in die hektische Hauptstadt umzusiedeln. Den Kennzeichen der verbliebenen Autos beim Rundgang nach zu urteilen, dürften in den angrenzenden Landkreisen Weilheim und Bad Tölz demnächst einige Häuser leer stehen. Falls die Kennzeichen echt sind.
Man kann den Unmut innerhalb der Mauern verstehen. Wer will schon dieses Idyll aufgeben, wo doch der Dienst trostlos genug ist. Zumindest signalisieren das die grauen Verwaltungsbauten aus den 60er- und 70er-Jahren, die sich auf dem BND-Gelände mit schäbigen, in Gelb und Ocker gestrichenen Vorkriegsgebäuden und Baracken abwechseln. Nicht einmal die einstöckige Dienstvilla des Präsidenten, in der einst Hitlers engster Getreuer Martin Bormann Hof hielt, wirkt sehr repräsentativ. Früher, ja, da war das hier eine eigene kleine Stadt mit Schule, Kindergarten, Geschäften und Schwimmbad. Aber auch der Geheimdienst musste sparen – übrig sind nur einige Tennisplätze am nordöstlichen Rand der Mauer.
Ein paar Meter weiter geht es in das Lage- und Informationszentrum, das Herzstück des BND. Doch für den verwinkelten Neubau „haben wir leider keine Genehmigung“, sagt Manuela Reipen freundlich, „da werden schließlich 24 Stunden am Tag Informationen gesammelt und ausgewertet“. Das beruhigt. Und woher kommen die Informationen so? Frau Reipen lächelt. Natürlich weiß sie es auch nicht.
Zurück am Eingang stürzt ein Wachmann auf uns zu. Wo der Fotograf sei, will er wissen. Man habe über Kameras beobachtet, wie er entgegen der Absprache BND-Mitarbeiter fotografiert habe. Das gilt hier als Todsünde, nicht einmal die Pressesprecherin würde sich freiwillig ablichten lassen. Der Fotograf, der nur Außenaufnahmen machen darf, wird geholt. Er bestreitet die Tat.
Showdown. Hinter den Panzerglasscheiben rumort es plötzlich. Ein Beamter eilt heraus und baut sich vor uns auf. An seiner rechten Hüfte sitzt die Waffe. Sein Gesichtsausdruck sagt: Das ist kein Spaß. Der Fotograf gibt den Film heraus. Entwickeln wird ihn der BND. Stimmt, schießt es einem durch den Kopf, das ist hier der Geheimdienst. Echte Waffen, echte Agenten, falsche Auskünfte. Von wegen 006. Aber, nun ja, es ist der BND. Wir hatten noch einen Film im Handschuhfach, den hättet ihr nicht gefunden, stimmt’s? Keine Sorge, wir haben ihn freiwillig abgegeben. Es war sowieso nirgendwo ein Agent drauf.