: Die Ironie des lieben Gottes
VON KLAUS HARPPRECHT
Nichts gegen Horst Köhler, nach Menschen-, genauer nach schwarzem und gelbem Parteiermessen künftiger Präsident der Bundesdeutschen. Mit vorauseilendem Respekt vor dem Amt beugen wir unser Haupt. Wir werden uns, wenn es sein muss, gutwillig damit abfinden, was für Georg Paul Hefty, seit seinem jüngsten Lustgeschmetter in der FAZ zum Cheftrompeter der Bundeskanzlerin in spe avanciert, als Ankündigung des „Windes der neuen Zeit“ bejubelt wird: dass der Kandidat sich niemals in seiner Karriere „einer Volkswahl gestellt hat“, dass mit Köhler vielmehr ein früherer Spitzenbeamter und Verbandsfunktionär Staatsoberhaupt würde.
Nein, nicht das Geringste gegen Horst Köhler, den einstigen Klassenprimus der Bonner Finanzpolitik, nur Lob und Preis für den Besten der Besten in der graugrauen Elite unserer Staatsfunktionäre, den Mann, der fünf Sprachen spricht, den bergerfahrenen Chef-Sherpa Helmut Kohls bei den Wirtschaftsgipfeln, den geachteten Lenker des Internationalen Währungsfonds – „in der globalisierten Welt erprobt“, wie Hefty jauchzte. Mit einem kleinen Seufzer fügen wir hinzu, dass er als Hausherr im Schloss Bellevue die Bundesrepublik in gewisser Weise ehrlicher machen würde, als sie es vordem war: Er repräsentierte – auf höchstem Niveau – die Beamtenrepublik, die wir sind (wie jeder rasche Blick auf die soziale und professionelle Komposition der Bundes- und Länderparlamente beweist): die demokratisch legitimierte Herrschaft – nein, eben nicht nur der Parteien, sondern der immer währenden Koalition des Beamtenbundes und der einstigen ÖTV, die sich nun zur Übergewerkschaft Ver.di aufgeblasen hat. „Wind der neuen Zeit“?
Nein, nichts gegen Horst Köhler, den Beamten-Kaiser, der dennoch oder gerade darum der glänzende Repräsentant einer Gesellschaft sein würde, deren hehrstes Ideal einst der „Bank-Beamte“, der „Post-Beamte“, der „Bahn-Beamte“ war, einer universalen Kleinbourgeoisie, die sich am liebsten im VW-Monteur-Beamten mit lebenslang garantierter 35-Stunden-Woche, im Arbeitslosen-, im Frührenten- und im Vorruhestands-Beamten erkennen würde. Vielleicht aber versucht Horst Köhler, der Höchstbeamte, als Erfüllungsgehilfe des Prinzips der welthistorischen Ironie just diese Mentalität auf- oder gar fortzuscheuchen, weil er sie im Herzinnern kennt und sich lange genug draußen umsehen konnte, in der globalisierten Realität, in der die deutsche Beamtengesinnung gewiss nicht vorherrscht?
Nichts gegen den Wundermann, den Angela Merkel aus dem Thatcher-Hütchen zog, das sie (noch) nicht trägt. Aber alles gegen den Ringelpiez, den die Hauptakteure des Spiels dieser Kandidatenwahl „hinter verschlossenen Türen“, damit aber erst recht vor aller Augen aufgeführt haben. Wie bombastisch und ridikül zugleich sie sich in Szene setzten, mit ihrer Wichtigkeit die Fernsehschirme beinahe sprengend, auch Frau Merkel, die mit einer Art von majestätischer Unscheinbarkeit und ihrer geradezu grellen Farblosigkeit vorführte, dass sie die Techniken der Macht bei Helmut Kohl virtuoser als all ihre Konkurrenten zu beherrschen gelernt hat (wie der Übervater selber schmerzlich erfuhr), Edmund Stoiber, Franz Josef Straußens machtgestählte Büroklammer, so souverän in die Ecke manövrierend wie einst Kohl den bayrischen Konkurrenten. Zwischen den beiden der „Königsmacher“, den wir uns immer erträumten: Guido Westerwelle, der sein Pokerface einem B-Western in Hollywoods verstaubtesten Archiven entliehen zu haben scheint.
Nicht auszudenken und dennoch die blanke Wahrheit: Es war diesem Streber mit den Allüren eines Vorstadtstenzes anheim gegeben, den Daumen zu heben oder zu senken. Dem Eintänzer, der einst die idiotisch-großkotzigen „18“ seines Freundfeindes Möllemann auf die Schuhsohlen gemalt hat wie Budapester Kleinhürchen ihre Preise auf die Sandalen. Vermutlich war die nächtliche Übereinkunft der Augenblick, in dem Westerwelle zum künftigen Vizekanzler gekürt wurde, was noch angehen mag (denn diesen Titel trug, während Helmut Kohl qualitätsgesättigter Regentschaft, auch Möllemann, ohne dass der Staat unheilbaren Schaden genommen hätte) – doch vermutlich wurde uns obendrein, Gott schütze uns, in jener schicksalsschwangeren Minute auch ein künftiger Außenminister beschert. Merkel und Stoiber sollten ihr protestantisches respektive katholisches Gewissen noch einmal dringlich befragen, ob dieser Preis für die Kanzlerschaft am Ende nicht doch zu hoch ist. Guido, der die Klaviatur aller gängigen Phrasen und Klischees so ungehemmt meistert wie kein anderes Mitglied der Bundesprominenz, könnte uns am Ende die Sehnsucht nach der schwäbisch-breimäulig-biederen Vernunft eines Klaus Kinkel lehren. Und er lehrte uns beten, dass ihm ein Hauch des Wissens, der Erfahrung, der intellektuellen Schärfe und der politischen Fantasie eines Wolfgang Schäuble eingehaucht würde.
Apropos christliches Gewissen, gleich welcher Konfession: Man muss kein sentimentaler Tropf sein, keine moralistische Mimose und erst recht kein Parteisympathisant, um die brutale Taktlosigkeit zu beklagen, mit der die drei fragwürdigen Schicksalspieler, die während der vergangenen Nächte in Berlin die Karten mischten, Stoibers einstigen Hauptkandidaten in seinem Rollstuhl über die Bühne rollen ließen, von links nach rechts, von rechts nach links, auch mal hinter den Vorhang, immer mit einem kräftigen Schubs, bis dem triumphierenden Guido das Plazet zum finalen Stoß gegeben wurde, der Schäuble samt seinem Gefährt schließlich über die Rampe befördert hat. Ein Rätsel, warum der das mit sich machen ließ. Um Frau Merkel und Herrn Stoiber und Herrn Westerwelle zu jener Demonstration schlechter Manieren und bemerkenswerten Kaltherzigkeit zu zwingen, die sie uns vorgeführt haben? Vergebliche Schmerzensmüh. Vermutlich merkten sie nicht einmal, wie niederträchtig sie sich benommen haben: übrigens nicht nur „Angela Machiavelli“, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung konstatierte, sondern die anderen beiden nicht weniger. Von keinem ein Wort des Mitgefühls. Des Bedauerns. Der Scham.
Und wenn sie die Rechnung ohne den Wirt, nein, ohne die Wirtin (die andere) gemacht haben sollten? Zog der Kanzler die Karte Gegenkandidatin von Rot-Grün erst dank einer genialen Eingebung in weit vorgerückter Stunde aus der Tasche? Wurde ihr Name schon das ein oder andere Mal in vertrauter Runde genannt, lange vor dem Anruf, der Gesine Schwan, die Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder), schließlich in den Vereinigten Staaten erreichte? Schröder warb von Beginn an dafür, dass eine Frau die Nachfolge von Johannes Rau übernehmen sollte – und er wählte die denkbar beste.
Frau Schwans intellektuelle Qualitäten entsprächen einer Tradition, die durch Theodor Heuss, Richard von Weizsäcker und in gewisser Hinsicht auch durch Roman Herzog geprägt wurde. Ihre Redlichkeit erinnerte an Gustav Heinemann, und sie stünde in der Tradition von Johannes Rau. Ihre universitäre Karriere liefert, wie die Zustände an unseren Hochschulen Tag um Tag beweisen, einen verlässlichen Härtetest. Überdies beherrscht sie die Kunst der Moderation, des Kompromisses, der Vermittlung, des Ausgleichs. Auch sie kennt sich in der Welt aus und ist anderer Sprachen mächtig. Sie versteht sich auf die elegante Repräsentation, die in Berlin bisher so klein geschrieben wird wie vordem in Bonn. Sie hat Charme. Sie hat Geist. Sie hat Herz. Georg Paul Hefty könnte sich mit seiner vorlauten Bemerkung von der „achtbaren Zählkandidatin“ böse täuschen.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass diese und jene freidemokratischen Abgeordneten in der Bundesversammlung die Chance nutzen, Westerwelle den Weg zu weisen, den er über kurz oder lang – dank seinem exemplarischen Mangel an Führungsqualität – ohnedies gehen muss: den zur Tür. Die Tage des Provinz-Mephisto sind gezählt. Auch Frau Merkel könnte erfahren, dass selbst unter Christenmenschen bayrischer, schwäbischer oder hessischer Herkunft die Rache als ein Gericht gilt, das kalt gegessen wird. So leicht fährt man mit dem Anhang von Kohl und Schäuble, von Merz und Koch am Ende doch nicht Schlitten – von der bajuwarischen Qualität der Tücke nicht zu reden, die in der Partei von Franz Josef Strauß gründlich geübt worden ist.
Womöglich regte sich auch bei den Christdemokraten eine Art Solidarität der Frauen? Vielleicht erntet der Feminismus den unerwarteten Triumph, dass uns zuerst eine Präsidentin, dann obendrein auch noch eine Kanzlerin beschert wird? Oder sorgt am Ende die männliche Angst vor der Überwältigung dafür, dass man es erst mit der Präsidentin versuchen sollte? Gesine als Dea ex Machina? Die List der Geschichte ist, wie Hegel wusste, unermesslich. Die Ironie des lieben Gottes ist es auch, was die Christdemokraten manchmal vergessen.