: Ein amerikanischer Alptraum
„Kollateralschäden, Mr. Präsident“: Die zweite Staffel der überragenden Fernsehserie „24“ berichtet von dem stillen Bürgerkrieg, den der Feldzug gegen den Terrorismus in den USA auslöst. Gebrochene Helden müssen erfahren, dass die Feinde Amerikas nicht in Erdhöhlen leben, sondern gleich nebenan
VON KOLJA MENSING
Los Angeles, kurz nach Mitternacht. Special Agent Jack Bauer wird ins Büro der Antiterroreinheit CTU gerufen. Terroristen planen ein Attentat auf den schwarzen Präsidentschaftskandidaten David Palmer, und sie haben es darüber hinaus auf Bauers Familie abgesehen. Es wird der längste Tag in seinem Leben – und auch der dunkelste. Um 23 Uhr 53, als eigentlich alles schon vorbei ist, wird Bauers Frau Terry kaltblütig von Nina Myers erschossen, seiner engsten Mitarbeiterin und einstigen Geliebten: „Wenn du mich jetzt tötest“, sagt Nina, als er seine Waffe auf sie richtet, „wirst du nie erfahren, für wen ich wirklich arbeitete.“ Das war das Ende der ersten Staffel von „24“, einer der besten amerikanischen Fernsehserien der vergangenen Jahre. Morgen beginnt RTL II mit der Ausstrahlung der zweiten Staffel. Jack Bauer ist zurück.
Auf den ersten Blick macht er keinen guten Eindruck. Die letzten 18 Monate waren hart. Jack Bauer, weiterhin von Kiefer Sutherland gespielt, hat sich vom Dienst suspendieren lassen. Wie ein alter Mann schleppt er sich mit einem zerrupften Vollbart durch sein unaufgeräumtes Apartment. Doch dann erreichen ihn um 7.15 Uhr an diesem Morgen die ersten Anrufe von den Kollegen in der CTU: Arabischen Terroristen ist es gelungen, eine Atombombe mitten in Los Angeles zu platzieren. Bauer zögert zunächst, lässt sich aber von David Palmer (Dennis Haysbert), der mittlerweile Präsident der Vereinigten Staaten ist, zu einem Wettlauf gegen die Zeit überreden. Irgendwann in den nächsten 24 Stunden soll die Bombe explodieren. Es wird wieder ein sehr langer Tag für Jack Bauer werden.
Genau wie für die Zuschauer vor dem Fernseher. Auch die zweite Staffel von „24“ ist in Echtzeit gedreht. Es gibt keine Rückblenden, keine Zeitsprünge, alles passiert genauso schnell wie im richtigen Leben. Selbst während der Werbeunterbrechungen läuft der Time Code weiter, und wenn eine der tactical units der CTU zehn Minuten braucht, um einsatzfähig zu werden, dann dauert es eben wirklich genau zehn Minuten. Und das kann eine verdammt lange Zeit sein. Natürlich darf der Moment nicht fehlen, an dem der Zeitzünder des nuklearen Sprengsatzes im Bild erscheint. Eine knappe halbe Stunde vor dem Ende einer Folge – und es nicht die letzte! – sind es exakt 26 nervenaufreibende Minuten bis zur Explosion: clock’s ticking. So ein Countdown gehört zum Genre, doch „24“ ist viel mehr als nur ein sekundengenauer Actionfilm mit deutlicher Überlänge.
Jack Bauer verfolgt zwar in einem atemlosen Marathon auf den Straßen von Los Angeles die Spur der Terroristen und stößt dabei sehr bald auch auf den Namen Nina Myers. Doch in dieser Serie werden noch ganz andere Kämpfe ausgetragen. Seine Kollegen in der Einsatzzentrale der CTU pflegen über die Schreibtische hinweg ihre persönlichen Differenzen, in reichen Vorortsiedlungen zerbrechen Familien, und im Weißen Haus in Washington werden auf höchster Ebene Intrigen und Verschwörungen angezettelt. Freunde werden zu Feinden, Ehefrauen zu Verrätern und ehrbare Politiker zu Tyrannen. Es geht um die ganz großen Gefühle, wie in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings werden sie mit Mitteln in Szene gesetzt, von denen Schriftsteller nur träumen können.
Um das breit angelegte Katastrophenszenario zusammenhalten, setzen die Macher der Serie unter anderem auf die Split-Screen-Technik. Alle zehn bis fünfzehn Minuten synchronisieren bis zu vier verschiedene Bildschirmfenster die verschiedenen Handlungsstränge. Dieses Verfahren erzeugt meist eine Art Verfremdungseffekt, in dieser Serie jedoch bewirkt es genau das Gegenteil. Mit der räumlichen Distanz der Figuren geht auch die Distanz des Betrachters verloren – zum Beispiel als Jack Bauer in der ersten Staffel aus seinem Auto von einem Highway in San Diego gleichzeitig mit seiner Frau und seiner ehemaligen Geliebten Nina Myers telefonierte. Auf drei verschiedenen Frames konnte man die Mimik in den drei Gesichtern beobachten und bereits in diesem Moment etwas von der Brutalität ahnen, mit der die verhängnisvolle menage à trois wenige Stunden später zerbrechen wird.
Solche Montagen zeigen mehr, als man in Wirklichkeit sehen kann. Die gesamte Ästhetik von „24“ – mit hoch aufgelösten Großaufnahmen von Gesichtern, eingeschnittenen Satellitenbildern und screen shots von Notebooks und GPS-Handhelds – folgt diesem technisch aufwändigen Hyperrealismus, der nicht für die große Kinoleinwand gemacht ist, sondern für den Bildschirm zu Hause. Das hier ist Fernsehen, und „24“ passt sich perfekt dem vorherrschenden Format an. Die Split-Screens sind nur eine von vielen Referenzen an das Erscheinungsbild der Nachrichtensender. Die Uhrzeit, die immer wieder am unteren Bildschirmrand eingeblendet wird, suggeriert Aktualität, die Zentrale der CTU gleicht einem Newsroom von CNN und der Bürochef George Mason (Xander Berkeley) wirkt wie ein gestresster Redaktionsleiter. Auch die Analytiker und Spezialisten gleichen mit der Beliebigkeit ihrer Lagebeurteilungen den so genannten Experten, die die Fernsehsender bei politischen Großereignissen in ihre Studios einbestellt.
So übernimmt „24“ nicht nur das Design, sondern auch die Dramaturgie, mit der Tag und Nacht der news stream unerbittlich durch die Nachrichtenkanäle in unsere Wohnzimmer gepumpt wird. Doch während man selbst während einer ausgewachsenen internationalen Krise zuletzt den Fernseher abschaltet, weil die Bilder sich wiederholen, wird man den strategisch platzierten Cliffhangern der Serie kaum widerstehen können – auch wenn es man vielleicht gerne möchte. Das Bild von Amerika, das „24“ vermittelt, entspricht nämlich zweifellos unseren düstersten Alpträumen, und all die guten, deutschen Michael-Moore-Fans und John-F.-Kerry-Anhänger werden sich dafür hassen, dass sie ab sofort jeden Dienstag um 20.15 Uhr vor dem Fernseher sitzen.
Die zweiten Staffel eröffnet gleich mit einer Handvoll CIA-Agenten, die in einem verdreckten Keller in Seoul, Südkorea, einen Informanten foltern. Später wird Präsident Palmer unliebsame Journalisten in Arrest nehmen lassen und diskret weitere „Verhöre“ nach den Methoden der CIA anordnen. Jack Bauer wird grundlos einen Verdächtigen in den Räumen der CTU niederschießen und einem Terroristen mit der Hinrichtung seiner Familie drohen – und natürlich bekommt niemand, der in diesen 24 Stunden von den Regierungsbehörden in Haft genommen wird, einen Anwalt, geschweige denn eine Aussicht auf ein faires Verfahren. Die amerikanischen Geheimdienste berufen sich auf das „Department of Homeland Security“, wenn sie Bürgerechte verletzten, und gehen nicht selten über Leichen: „Kollateralschäden, Mr. Präsident“, fasst der Chef der NSA die letzten Opferzahlen in diesem stillen Bürgerkrieg zusammen und drängt Palmer, als Antwort auf die Bombe in L.A. massive Vergeltungsmaßnahmen gegen mindestens drei arabische Länder vorzubereiten. Die Entscheidung über Krieg und Frieden setzt das System von checks and balances außer Kraft. So sieht es aus, wenn eine demokratisch verfasster Staat unter Druck gerät.
Das Szenario ist vertraut. Die neuen Folgen von „24“ sind offensichtlich nach den Anschlägen auf das World Trade Center gedreht worden. Während im November 2001 aus dem Pilotfilm zur ersten Staffel noch pietätvoll die Bilder eines explodierenden Flugzeugs herausgeschnitten wurden, geht es jetzt richtig zur Sache. Fox Entertainment hat erst einmal kein Problem mit den Auswirkungen von Bushs Feldzug gegen den Terrorismus: „Wir fahnden nach jungen Männern, die ihre Ausbildung in Westeuropa und den Vereinigten Staaten absolviert haben und deren Familien aus dem Nahen Osten stammen“, bekennt Agent Tony Almeida (Carlos Bernard) schulterzuckend, als er auf die „racial profiles“ im Antiterrorkampf an der Heimatfront angesprochen wird. Und dabei gehört er eigentlich zu den Sympathieträger in „24“.
Nach dem 11. September haben eine Menge Thrillerautoren – wie zum Beispiel Tom Clancy in seinem letzten Bestseller „Im Auge des Tigers“ – darüber geschrieben, dass das Raubtier Amerika trotz seiner Verletzungen nicht verlernt hat, die Krallen auszufahren. Diese Romane und auch manche der dazugehörigen Verfilmungen leben von der Faszination für hoch motivierte Einzelkämpfer im geheimen Staatsdienst: Killermaschinen, die die Feinde Amerikas von serbischen Killer über arabische Terroristen bis hin zu ehemaligen KGB-Agenten zur Not mit bloßen Händen erledigen.
Nicht die kalkulierten Tabuverletzungen, sondern der hohe patriotische Ton machen diese Art von Action auf die Dauer unerträglich. „24“ dagegen verweigert zumindest über weite Strecken diesen Dienst am Vaterland. Tony Almeidas schlichtes Schulterzucken, das müde Gesicht seines frustrierten Vorgesetzten George Masons und Jack Bauers nervöses, hustendes Lachen, das Kiefer Sutherland mittlerweile perfektioniert hat, sind Zeichen einer schleichenden Resignation. Like it or not: Die Serie zeigt ein Amerika, an das niemand mehr glaubt und das dennoch innerhalb eines einzigen Tages Konflikte produzieren kann, für die auf allen Seiten unzählige Menschen bereit sind zu sterben. „Du musst mir vertrauen“, dieser Satz taucht in jeder Folge zwei oder dreimal auf. Mindestens genauso oft müssen Jack Bauer und David Palmer, Tony Almeida, George Mason und all die anderen gebrochenen Serienhelden erleben, dass sie sich auf nichts und niemanden verlassen können. Die Feinde Amerikas verstecken sich nicht in Gebirgshöhlen und Erdlöchern. Sie leben gleich nebenan. Und vielleicht hat der eine oder andere von ihnen längst schon die Seiten gewechselt, ohne es selbst zu wissen.
Eines ist auf jeden Fall sicher. Sie werden die bad guys auch diesmal wieder nicht alle erwischen. Die ersten Folgen der dritten Staffel von „24“ sind in den USA bereits angelaufen.
„24“. RTL II, dienstags, 20.15 Uhr