„Bittere Zeit“

Bernhild Vögel hat die erste Studie zur Zwangsarbeit im niedersächsischen Bergwerk Rammelsberg vorgelegt

Schwerstarbeit, Hunger und die Angst vor Strafen prägten den Alltag

„Ich kann gar nicht glauben, dass es jemanden interessiert. Es ist doch nur meine Geschichte“, sagte Ilja Miroschnitschenko. Auch nach dem Gespräch mochte der ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter kaum wahrhaben, dass ihn eine deutsche NS-Forscherin befragt hat. Mehr als 55 Jahre hatte der Überlebende der Zwangsarbeit im Erzbergwerk am Rammelsberg bei Goslar nicht über die „bittere Zeit“ dort gesprochen.

In der jetzt erschienenen ersten Einzelstudie über Zwangsarbeit in einem Bergwerksbetrieb überhaupt – Titel: Wir waren fast noch Kinder – lässt die Autorin Bernhild Vögel neben Miroschnitschenko auch andere „ukrainische Ostarbeiter“ wie Maria Wojtenko aus Lugansk oder Sergie Letjuga aus einem Dorf bei Sumy erzählen. Sie wurden als Jugendliche nach Rammelsberg verschleppt. Schwerstarbeit, Hunger und die Angst vor Strafen prägten ihren Alltag. Von der Arbeit im Werk und der Behandlung durch die Lagerführung reden sie nur zurückhaltend. „Was soll ich vom Bergwerk erzählen? Naja, schlimm war es da unten“, wehrt Letjuga ab, und Wojtenko möchte „nichts Schlechtes über die deutschen Arbeitskollegen“ sagen.

In den Akten der ehemaligen Unterharz Berg- und Hüttenwerk GmbH war die Sozialwissenschaftlerin Bernhild Vögel auf die Namen der Betroffenen gestoßen. Seit Jahren schon forscht sie zwischen Braunschweig, Salzgitter und Goslar zum Schicksal von Zwangsarbeitern. Im Auftrag des Bergbaumuseums „Der Rammelsberg“ hatte sie Akten gesichtet, um in der kulturgeschichtlichen Ausstellung die Geschichte der Zwangsarbeit im Werk darzustellen. Am 7. und 8. Mai 1942 war der erste Transport von Zwangsarbeitern aus der Ukraine eingetroffen: 50 Männer, die die Polizei bei Razzien eingefangen hatte. Wer als „bergbauuntauglich“ galt, kam zur Firma „Harzer Grauhof“. Zum Kriegsende machten die Zwangsarbeiter, die auch aus Belgien, Frankreich und Italien kamen, 40 Prozent der Belegschaft aus.

Den Akten der Täter stellt Vögel immer wieder die Erinnerungen der Opfer entgegen. Nicht immer wollten oder konnten sich die über 70- und 80-Jährigen allerdings genau erinnern. „Das menschliche Gedächtnis ist kein Aktenordner. Es speichert Ergebnisse, verknüpft sie mit anderen und löscht Geschehnisse“, betont Vögel. Aufgefangen werden solche Unschärfen der Erinnerung durch die umstrittene, in diesem Fall aber gelungene Form: Als Reportage hat Vögel die Reise zu den Betroffenen konstruiert – ein Genre, das ihr immer wieder erlaubt, das Gehörte zu relativieren, ohne den Betroffenen die subjektive Authentizität der Erinnerung abzusprechen.

ANDREAS SPEIT

Bernhild Vögel: „Wir waren fast noch Kinder. Die Ostarbeiter vom Rammelsberg“; Verlag Goslarsche Zeitung, 240 S., 19,95 Euro. Ständige Ausstellung im Weltkulturerbe Rammelsberg: täglich 9–18 Uhr, Goslar, Bergtal 19. Info: www.rammelsberg.de