: Westreise mit Rückenwind
aus Vilnius KIRSTEN KÜPPERS
Wenn der Bus mit einem Schwung die Kurve nimmt, in den Busbahnhof einbiegt und sie wenige aufgeregte Momente später alle aussteigen, ihre Koffer und Tüten und Tragetaschen nach draußen auf den Boden wuchten, all diese jungen Menschen, dann ist das schon mal nicht schlecht. Sie sind lange weg gewesen, Sigita und Julia und Jolanta, die jungen Frauen. Und genauso die jungen Männer, die Namen tragen wie Rolandas, Giedrius oder Mindauras. In einem Vorort von München haben sie als Au-pair-Mädchen gearbeitet wie Julia, als Aushilfe bei einer bayrischen McDonald’s-Filiale wie Mindauras, in einem Ausflugscafé auf der Ostseeinsel Fehmarn wie Sigita, haben Volkswirtschaft studiert in Berlin wie Rolandas.
Aber jetzt, ja jetzt sind sie wieder zu Hause in Vilnius. Nach 36 Stunden Fahrt in einem engen, billigen Bus, der sie vorgestern irgendwo an einer Haltestelle in Deutschland aufgesammelt hat. Sie sind noch am Leben, nach 36 Stunden Fahrt, und sie sind wieder zurück in Litauen.
Denn das ist die größte Angst, die in diesem Land herrscht: dass die 20-Jährigen Litauen verlassen, für ein besseres Leben, und nie mehr zurückkommen in ihr Zuhause im Baltikum, das weder reich ist noch besonders mächtig. Eine Gegend, aus der die Bevölkerung schon immer wegstrebte ins Ausland. Ein Land, von dem die Menschen anderswo meist nicht einmal wissen, dass es hinter Polen, zwischen Kaliningrad, Weißrussland und den anderen baltischen Staaten liegt. Dass Julia, Mindauras, Sigita und Rolandas nun also doch heimgekehrt sind, das ist ja wirklich eine Freude für die anderen Litauer im Land.
Es war nicht der Grund, warum sie zurückgekommen sind. Aber mit der Rückkehr geht doch zusammen, dass sie nun die wichtigste Entscheidung ihres Lebens nicht verpassen. Denn so dramatisch wird es ja in Litauen gerade formuliert: „Die wichtigste Entscheidung deines Lebens“. Überall steht dieser Satz. Auf Plakatwänden in den Straßen, in der Post, am Einkaufszentrum, an den Bushaltestellen, auf Handzetteln in den Kneipen. Man hört ihn im Radio und im Fernsehen. Der Satz wirbt für das Referendum am Wochenende. Die Litauer entscheiden dann, ob sie in die Europäische Union wollen oder nicht.
Alle reden über das Referendum
Rolandas, Julia, Mindauras und Sigita finden, dass diese Entscheidung für ihre Zukunft ziemlich wichtig ist. Deshalb werden sie hingehen und abstimmen am Samstag und am Sonntag.
Erst werden sie von ihren Verwandten am Busbahnhof abgeholt werden, von diesen geduldigen Müttern und Vätern und Onkels und Schwestern, die sich drängen unter dem Dach der Haltestelle wegen des Nieselregens. Die gewartet haben stundenlang, weil der Bus aus Deutschland wieder Verspätung hatte. Und wenn die Eltern ihren Sohn oder ihre Tochter dann endlich mit dem ganzen Gepäck ins Auto gesetzt haben, ihren Mindauras oder ihre Sigita, und man sich hastig das Wichtigste erzählt hat über die Verspätung, warum das Wetter so schlecht ist, ob man Hunger hat und in aller Kürze, wie es überhaupt war in Deutschland und in Litauen die ganze Zeit über, dann werden sie im Auto auf das Referendum zu sprechen kommen. Weil es ja ansteht jetzt. In Litauen reden alle darüber.
Und wenn man nun bei der blonden Sigita im Auto mitfahren würde, wäre es so: Der Vater sitzt am Steuer und er wackelt ein bisschen skeptisch mit dem Kopf und sagt, na ja, eine Union, das hatten wir schon mal, das war schlimm. Und jetzt gleich die nächste? Und wenn der Großvater auch noch auf der Rückbank sitzt, wird das sein Stichwort sein und er wird wieder schimpfen über die Russen und daran erinnern, wie es war damals in der Sowjetunion, als jeder fünfte Litauer nach Sibirien deportiert wurde. Und vielleicht ist es doch besser mit der EU, meint der Großvater weiter. Weil dann gehört man zum Westen, und er macht ein böses Gesicht von der Wut, die noch in ihm steckt. Weil den Russen kann man nicht trauen.
Sigita wird sagen: „Na also, bitte! Macht euer Kreuz! Wir wollen nach Europa. Wir wollen reisen und im Ausland lernen und arbeiten, und die EU zahlt Subventionen für unser Land. Macht euer Kreuz uns zuliebe für die EU!“
Solche Sätze können bedeuten, dass noch mehr weggehen werden, wenn Litauen in der EU ist, dass der Bus nicht mehr zweimal pro Woche fahren wird, sondern täglich. Vielleicht wird es auch so sein, dass es in den Bussen nach Westen enger sein wird als in denen nach Litauen. Obwohl junge Litauerinnen wie Sigita versichern, dass sie ihre Heimat lieben und deshalb wiederkommen werden. Alles in allem wird Sigita die Familie vermutlich überzeugen von den Vorteilen der EU. Denn die Alten denken, die Zukunft gehört den Kindern.
So wird es gehen. Das ist der typische Fall. Weil es aber immer Abweichungen gibt im Leben, und weil an diesem Tag am Busbahnhof vielleicht doch keine Verwandtschaft steht, geraten Rolandas oder Julia mit ihren Taschen und dem Gepäck vielleicht an einen wie Donatas. Auch ein Junger. 23 Jahre ist er alt, Taxi fährt er schon seit ein paar Jahren. Er wird sagen, dass er eigentlich für die EU stimmen will. Aber dass er ein bisschen misstrauisch ist, auch: „Vielleicht verkommt Litauen dann zu einem billigen Arbeitskräftelager für die EU. Das könnte sein.“ Mit der Hand wedelt er eine unbestimmte Gefährlichkeit in die Luft. Einige Menschen in Litauen denken so.
Auch die Bauern auf dem Land sind noch unsicher, ebenso die, die sich nicht auskennen mit Wirtschaft und Politik. Auch die Jugendlichen in Vilnius im großen Einkaufszentrum am Autobahnring fiebern der EU nicht gerade entgegen. Vor allem die Teenager, die in diesem größten Einkaufszentrum des ganzen Baltikums ihre Zeit totschlagen und dabei auch nicht recht wissen, was sich hier ändern wird inmitten von Ladenketten und Bowlingbahnen und China-Restaurant, wenn die neue Union kommt. Auch weil es nicht so das Alter ist, in dem einen so etwas überhaupt interessiert. Um all diesen Leuten beizubringen, dass man sich vor der EU nicht zu fürchten braucht, ist die Regierung in hektische Geschäftigkeit gefallen. 50 Prozent Wahlbeteiligung muss sie erreichen, damit die Abstimmung gilt.
So lässt sie Plakate kleben und laute Sprüche im Radio senden. Es gibt Diskussionsrunden im Fernsehen und jeden Abend sind in den Nachrichten fünf Minuten allein für das Referendum reserviert. Auch ein Bus wird durchs Land geschickt. Er ist mit Luftballons und Prominenten bestückt. Dort, wo der Bus hält, bekommen die Leute blaue T-Shirts und Kugelschreiber geschenkt. Sie können sich erklären lassen, was es auf sich hat mit der EU. Zum Beispiel dürfen sie einem jungen Rockstar wie Maxas zuhören. Maxas hat blondierte kurze Haare und er ist der Sänger von „Biplan“, der bekanntesten alternativen Rockband Litauens. Und wer Maxas nach dem Konzert in der Kneipe fragt, ob er für die EU ist, dem wird er antworten: „Na klar! Weil dann kann ich reisen als Musiker und Konzerte geben in London, Rom und Berlin.“ Eine Aussicht, die viele junge Litauer überzeugt. Die meisten hier werden für den Beitritt stimmen. „Wir sind ein kleines Land. Was bleibt uns auch anderes übrig?“, ruft einer. Es klingt wie eine ausgemachte Sache.
Entschiedene Gegner der EU gibt es trotzdem. Man muss jetzt nicht anfangen von den 30 Rechtsradikalen, die in Siauliai, einer Stadt im Norden, wütende Demonstrationen organisieren, wo sie vor Überfremdung warnen und vor dem Verlust nationaler Identität. Sie sind zu wenige, als dass irgendeiner sie ernst nähme. Aber in einem Haus mitten im Zentrum von Vilnius kann man ebenfalls kritische junge Menschen finden. Die 23-jährige Govita hat viele Piercings im Gesicht, trägt ein Palästinensertuch um den Hals, sie studiert Soziologie und ernährt sich vegan. Mit der 21 Jahre alten Diana zusammen arbeitet Govita ehrenamtlich in diesem Haus, das im dritten Stock ein Informationszentrum für Nichtregierungsorganisationen beherbergt. Diana und Govita schimpfen nicht nur auf die EU, sondern auch auf ihre Regierung, die ihrer Ansicht nach die negativen Auswirkungen des Beitritts verschweigt. „Bei einer zentralen EU-Verwaltung verliert das Volk die demokratische Kontrolle. Das brauchen wir nicht. Alles kann doch genauso gut so bleiben, wie es ist“, meint Govita. Diana schiebt nach, sie beide wüssten, dass ihre Neinstimmen am Wochenende beim Referendum kaum etwas ausmachen werden. Sie und ihre Freunde seien mit ihrer Haltung ziemlich allein in Litauen. „Wir können nichts tun“.
Wer sagt Nein? Nur ganz Blöde!
Es sieht also schlecht aus für die Gegner der Union. 70 Prozent der Bevölkerung befürworten einen EU-Beitritt, hat die letzte Umfrage ergeben. An den litauischen Schulen hat es schon ein symbolisches Referendum gegeben. Alle Schüler der fünften bis zwölften Klassen durften abstimmen, ob ihr Land in die EU soll. Jetzt kann man durch die Straßen von Vilnius laufen und überall zwölfjährige Mädchen wie Karina finden. Kinder, die vor der struppigen Grünanlage eines Wohnblocks mit ihren Freunden Seil springen und sich dann vor einem aufbauen und stolz erzählen, dass ihr Land bald dazugehören wird zur EU. Dass alle Klassenkameraden dafür gestimmt haben. Nur die ganz Blöden waren dagegen, meint Karina.
Das ist also die Lage. Ein Werbespruch, der auf litauischen Plakatwänden zu lesen ist, geht so: „Was macht ihr am Wochenende?“ – „Wir gehen in die Europäische Union.“ Ganz einfach.