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Archiv-Artikel

„2710 an die Arbeit“

Habsüchtige Bauern, mittellose Kutscher und der beste Müllmann Berlins: Klassenverhältnisse sind durch die Bank ein Thema im türkischen Kino, dem das Arsenal bis Ende Dezember eine Reihe widmet

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Arsenal bemüht sich, mit einer von Martina Priessner kuratierten Filmreihe dem interessierten Zuschauer das Kino der Türkei nahe zu bringen. Bis Ende Dezember zeigt das Filmkunsthaus am Potsdamer Platz 30 türkische Kurz- und Langfilme, die zwischen 1960 und der Gegenwart entstanden sind.

Die Sechziger- und frühen Siebzigerjahre gelten als Goldenes Zeitalter des türkischen Kinos. Die Produktion von zuvor zehn Filmen im Jahr schnellte auf bis zu 250 Filme hoch. Kino war das hauptsächliche Freizeitvergnügen der Leute. Es gab mehrere tausend Kinos, die oft ausschließlich nationale Melodramen, Komödien, Musical, Gangsterfilme zeigten. Die vergleichsweise verbreitete Illiterarität in der Bevölkerung war einer der Gründe für den überwältigenden Erfolg der einheimischen Filmproduktion. Manche Intellektuelle scherzten, die türkische Gesellschaft sei in das Kinozeitalter eingetreten, ohne das Buch kennengelernt zu haben.

„Diese Filme wurden in einem sehr industriellen Sinne gemacht – der künstlerische Aspekt blieb im Hintergrund“, so der türkische Filmkritiker Attila Dorsay. „Die türkischen Intellektuellen zeigten kein großes Interesse an diesen nationalen Produktionen. (…) Einige Kolumnisten gingen nur in diese Filme, um sich darüber lustig zu machen, und eine Menge Witzchen kursierten seinerzeit über diese Art von Kino.“

Schade, dass in der Filmreihe des Arsenals lediglich ein Film aus den Sechzigerjahren vertreten ist: „The Dry Summer“ von Susuz Yaz, der 1964 den Goldenen Bären auf der Berlinale gewann und als der erste große internationale Erfolg des türkischen Kinos gilt. Der Film, der erst vor kurzem wiederentdeckt und von der World Cinema Foundation restauriert wurde, erzählt in einem schönen Schwarz-Weiß von dem habsüchtigen Bauern Osman, der den anderen Dorfbewohnern das Wasser abgesperrt hat, weil sich die Quelle auf seinem Grundstück befindet. Hasan, sein jüngerer Bruder, meint, das Wasser gehöre allen. Es kommt zu Konflikten, bei denen Osman einen Bauern tötet. Hasan nimmt die Schuld auf sich und kommt ins Gefängnis. Der große Bruder, der schon lange ein Auge auf die Braut seines Bruders geworfen hat, verbreitet die Information über den angeblichen Tod seines Bruders und überredet dessen Frau, ihn zu heiraten. Als der lebendige Hasan in sein Dorf zurückkommt, kommt es zum Showdown.

1974, mit der Einführung des Fernsehens in der Türkei, endete das Goldene Zeitalter des türkischen Kinos. Ein schneller Wandel setzte ein. Die Leute guckten nun lieber fern. Mittlerweile gibt es in der Türkei über 300 Fernsehkanäle.

Der strenge Filmkritiker Attila Dorsay ist der Ansicht, dass es in den von stereotypen Schablonen geprägten Siebzigerjahren nur einen gegeben hätte, der interessant gewesen wäre: den 1984 verstorbenen Schauspieler und Regisseur Yilmaz Güney, einen überzeugten Marxisten, der lange Zeit seines Lebens im Gefängnis verbrachte und auch das Skript zu dem wohl berühmtesten türkischen Film der Neuzeit – „Yol“, der 1982 die „Goldene Palme“ in Cannes gewann – geschrieben hatte. Sein 1970 entstandenes erstens Meisterwerk „Umut“ (Hope) erzählt von dem mittellosen Kutscher Cabbar, der sein Dorf verlässt, um in der Stadt seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Charaktere fallen immer tiefer, bis der Film eine ironische, surreale, stellenweise tragische Komik erhält.

Serif Gören ist mit dem kurzen essayistischen Dokumentarfilm „Rot Grün“ (1988), der durch multikulturelle Berliner Nächte schweift, und dem sehr interessanten Langfilm „Deutschland, bittere Heimat“ (1979) vertreten. Letzterer kreist um Güldane, die in Berlin in einer Kreuzberger Frauen-WG lebt und in einer Fabrik arbeitet. Sie geht eine Scheinehe mit einem Mann aus ihrem Heimatdorf ein. Beide leben getrennt. Der Mann fühlt sich sehr fremd im dekadenten Westen, in dem die Pornografie gerade freigegeben wurde und windige Parkagestalten auf dem Bahnhof nach Haschisch fragen. Sehr schön und auch klassenkämpferisch wird von der Fabrik berichtet, in der ein kleiner Roboter durch die Gegend fährt und Sachen ruft wie „Achtung: 2710 an die Arbeit“. Geschlechterverhältnisse werden auch thematisiert. Ein türkischer Müllmann, der als bester Müllmann Berlins eine Medaille verliehen bekommt und in seiner Dankesrede den schönen Satz sagt: „Deutscher Müll ist guter Müll“, spielt auch eine Rolle.

Des Weiteren werden auch viele neuere Filme gezeigt, von Nuri Bilge Ceylan, Zeki Demirkubuz, Reha Erdem, Semih Kaplanolu, Yeim Ustaolu und noch mehr. Diese Regisseure stehen für ein Comeback des türkischen Films seit Mitte der 90er-Jahre. Ihre auf internationalen Festivals oft ausgezeichneten Werke strahlen eine große Kraft und Entschlossenheit aus und werden durch diese Filmreihe sicher auch in Berlin viele Freunde finden.

Heute Abend, 20 Uhr, Eröffnung der Reihe türkischer Filme mit Martina Priessner und „Drei Affen“ von Nuri Bilge Ceylan