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Archiv-Artikel

Feuchte Metamorphosen

Hemmungsloser als David Lynch: In Shinja Tsukamotos Mitternachtsfilm „A Snake of June“ hört der Regen niemals auf. Die Kamera blickt aus dem Abflussrohr, und teleskopartiges Sexspielzeug treibt sein Unwesen mit glitschigen Menschenkörpern

VON ANDREAS BUSCHE

So einen Regen habe ich im Kino nicht mehr gesehen, seit der Horrorfilm „Dark Waters“ lief – auch dies ein Film, der den Bildkontakt zur Welt des Unterbewussten und Verdrängten sucht. In Shinja Tsukamotos „A Snake of June“ ergießt sich das Regenwasser sturzbachartig durch viel zu enge Ableitsysteme, verstärkt wird es von einem donnernden Rauschen. Kaum verlassen die Menschen ihre Wohnzellen, sind sie auch schon durchnässt bis auf die Knochen. Ihre Regenschirme tragen sie – zur Not auch vor dem Körper –, als gelte es, ihre Sexualität vor den Blicken Fremder zu schützen. Jeder Blick, jede Einstellung sind in „A Snake of June“ automatisch sexuell konnotiert. Und wenn die Hauptfigur Rinko im Minirock unbeholfen durch die Straßen Tokios stöckelt, kneift sie unwillkürlich ihre Knie zusammen. Kein Bild ist unschuldig in den Filmen Tsukamotos, und das gilt umso mehr für seinen neuen Arthouse-Exploitation-Mitternachtsfilm „A Snake of June“.

Immer wieder sehen wir Sturzbäche in glucksenden Gullys verschwinden, und in der nächsten Szene blickt uns ein schwarzer Abfluss entgegen, den Rinkos Ehemann Shigehiko wie ein Wahnsinniger scheuert. Dieser Blick erinnert daran, dass sich im Wasser der ganze Schmutz unserer unreinen Existenz sammelt. Die nächste sexuell konnotierte Bildfolge: nackte Haut, Regen, Abflusswasser, schwarzes Loch, in dem das Begehren verschwindet. Der Film wiederum scheint seine Figuren wie ein Spanner aus genau solch einem Loch heraus zu beobachten. Manchmal blickt die Kamera ihnen auch so frontal entgegen, dass ihre Gesichter die Züge von Ratten annehmen.

Rinko und Shigehiko führen eine japanische Bilderbuchehe: Beide haben Erfüllung in ihren Berufen gefunden, halten ihre Wohnung penibel sauber und schlafen nachts in getrennten Betten. Aber der Schein trügt. So wie die Kamera sperrig um die Figuren herumschleicht, verbreitet „A Snake of June“ von der ersten Minute an ein Gefühl der Repression: Dieses visuelle Herumdrucksen macht einen fast wahnsinnig.

Die Fassade bröckelt, als Rinko, die für eine Beratungshotline für Krebspatienten arbeitet, einen anonymen Brief mit Fotos von sich erhält, die in einem Moment vermeintlicher Intimität geschossen wurden. Sie allein mit ihren sexuellen Obsessionen. Am nächsten Morgen meldet sich der Voyeur am Sorgentelefon. Er fordert, dass Rinko sich öffentlich zu ihren geheimen Wünschen bekennt, andernfalls landen die Negative bei ihrem Mann. Der Anrufer (gespielt von Tsukamoto selbst), ein ehemaliger Krebspatient, schickt Rinko im Minirock und mit ferngesteuertem Vibrator bewaffnet auf eine Tour de Force durch die öffentlichen Toiletten und U-Bahnhöfe eines dauerverregneten Tokios.

„A Snake of June“ zeigt eine kalte, blau-monochrome Großstadthölle, die sich nicht erst perspektivisch verengen muss. Schon im Bildvordergrund zeichnet sich eine klaustrophobische Angst ab, die die Figuren unter wachsenden Druck setzt. Der kathartische Augenblick, in dem dieser Überdruck kompensiert werden kann, ist auch der Punkt, an dem die Bilder Tsukamotos sich endlich locker machen. Und dann wird es richtig krank. Die geschwürartigen Verwachsungen von Menschen und Objekten, zunächst rein obsessiv, später auch unmittelbar körperlich, führen schließlich zu den schönsten Mensch-Maschine-Metamorphosen, die das Kino außerhalb des Cronenberg-Kosmos und seit Tsukamotos Bodyhorror-Kultfilm „Tetsuo Ironman“ gesehen hat.

Teleskopartige Sexspielzeuge winden sich um glitschige, menschliche Körper. Gruppen von Männern mit retro-futuristischen Sichtgeräten werden gezwungen, gewalttätige Kopulationsspiele zu beobachten. Eine Fotokamera verschafft als phallische Erweiterung gesteigerten Lustgewinn (je heller der Blitz, je lauter das Klicken, desto größer die sexuelle Befriedigung, heißt es im Film). Und ununterbrochen gießt es wie aus Kübeln. Tsukamotos Filme lassen sich jedoch nicht auf solche Schlüsselbilder reduzieren. Sie finden dort im Gegenteil erst ihren Anfang.

Tsukamotos zwanghaft-pervertierte Fantasien wirken einfach hemmungslos geil, weil seine Bilder noch so vorbewusst-unraffiniert sind. Wie gehetzt er in dieser Enge nach Befreiung sucht, hat etwas Manisches, von dem man gerne mehr im Kino sehen möchte. Ähnlichkeiten mit David Lynch sind nicht von der Hand zu weisen, aber Tsukamotos außer Kontrolle geratenes Bilderrepertoire ist deutlich entfesselter und expliziter. Man muss das gesehen haben, um es zu glauben. Verstehen tut man es deswegen noch lange nicht.