doch die im licht, die sieht man nicht: paul grahams „american night“

Wer dieses Buch aufschlägt, fühlt sich, als ob er aus dem Schutz des Schattens in gleißendes Licht gerissen wird. Denn er sieht erst einmal nichts. Grell flimmert ihm die weiße Seite entgegen, und erst allmählich entdeckt er er einen kurzen Text, ein Zitat aus Hermann Melvilles „Moby Dick“. Weiß auf Weiß gedruckt, handelt es davon, dass wir die Dinge nur richtig sehen, wenn wir sie vor einem dunklen Hintergrund voneinander unterscheiden. Doch dieser Hintergrund ist hier nur schwer auszumachen. Die ausgewaschenen Farben der blassen, überbelichteten Fotografien lassen städtische Randbezirke, Ausfallstraßen und heruntergekommene Wohngegenden erkennen. In weiter Ferne ist eine schwarze Figur, meist ein Mann, zu sehen. Nach fünf oder sechs dieser Seiten erschrickt man plötzlich vor der farbgesättigten Fotografie eines Hauses mit gepflegtem Vorgarten: das Heim der amerikanischen Mittelklasse. Ein Traumhaus. Allerdings nur für die schwarze Unterschicht. Die weiße Mittelschicht nennt es ihr Eigen. Später erschrickt man vor zehn farbsatten Fotos, die die fernen Figuren aus den Randbezirken von Los Angeles oder Memphis plötzlich aus der Nähe zeigen, im Zentrum von New York. Es sind armselige Leute, die Paul Graham hier ganz nah aufnimmt. Der Engländer, der zusammen mit Martin Parr Anfang der Achtzigerjahre eine neue britische Farbfotografie inspirierte, zeigt die gesellschaftlich Ausgelöschten fotografisch ausgelöscht. Aufklärung heißt eben: Man muss nur genug Licht in die Dinge bringen, um zu sehen, was unsichtbar war. Gerade wenn es dann kaum noch zu erkennen ist. Präziser, engagierter und kunstvoller ist das amerikanische Rassen- und Klassendilemma, ist die amerikanische Nacht wohl kaum je fotografiert worden.BRIGITTE WERNEBURG

Paul Graham, „American Night“. Steidl Verlag, Göttingen 2004, 128 Seiten, 75 €