: Pech für den Nachwuchs
Heute keinen Job, Rente mit 67 – die Alten kündigen den Jungen den Generationen- vertrag. Doch wer künftig Rentner finanzieren soll, braucht erst mal Chancen für sich selbst
Länger arbeiten ist nicht populär. Nach einer aktuellen Umfrage lehnt eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung es ab, künftig bis zum 67sten Lebensjahr zu arbeiten. Man will die „späte Freiheit“ genießen.
Dennoch ist klar: Oft gezwungenermaßen gehen die Älteren zu früh in Rente. Die Erwerbsphase wird durch längere Ausbildungen, Arbeitslosigkeit und ein früheres Ausscheiden kürzer, die Nacherwerbsphase durch einen frühen Rentenbeginn und gestiegene Lebenserwartung länger. Dies funktioniert heute noch leidlich, weil drei Personen im erwerbsfähigen Alter die Rentenlast eines Älteren schultern. In den Jahren der höchsten demografischen Belastung zwischen 2030 und 2050 wird aber – selbst unter der Annahme weiterer Zuwanderung – auf einen Bürger zwischen 20 und 65 Jahren ein Senior kommen. Ohne Veränderungen steht die gesetzliche Rente dann vor einem Kollaps: Sie beruht noch immer auf den seit 30 Jahren überholten Prämissen einer Vollbeschäftigungsgesellschaft, die jedem Erwerbsarbeit versprach und auskömmliche Altersrenten an eine männlich geprägte Lohnarbeitsbiografie knüpfte.
Zugleich setzt unser umlagefinanziertes Rentensystem einen – längst gekündigten – Generationenvertrag voraus: Die erwerbsfähige Generation erwirtschaftet Rentenbeiträge für Ältere und erwirbt dadurch Ansprüche. Pflicht der nachwachsenden Generation ist, sich in Schule und Ausbildung auf das Erwerbsleben vorzubereiten. Daran gekoppelt ist das Recht auf Chancen, diese Ansprüche auch erfüllen zu können. Solche Chancengerechtigkeit sucht man aber vergebens: Jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund schafft den Hauptschulabschluss nicht. Im Herbst fehlen 140.000 Lehrstellen. Nahezu jeder fünfte Heranwachsende ist erwerbslos. Für viele ist damit eine lebenslange Randständigkeit vorgezeichnet.
Ursachen liegen in einem seit Jahren unterfinanzierten Bildungs- und Betreuungssystem. Zugleich fehlt es an Hilfen, die es ärmeren Familien ermöglichen, aus eigener Kraft ihre Kinder angemessen zu versorgen. Während ältere Häuslebauer ein üppiges Baukindergeld auch erhalten, wenn der Nachwuchs längst aus dem Haus ist, sind 1,1 Milionen Kinder von Sozialhilfe abhängig. Ihre Zahl wird sich mit den geplanten Kürzungen beim Arbeitslosengeld weiter erhöhen. Wir haben so viele Privilegien etabliert, dass das Geld für jene fehlt, die später unsere Besitzstände wahren sollen.
Während man in Frankreich die Rentenreform mit einer neuen Familienförderung begleitet, blenden die Rürup-Vorschläge diese Zusammenhänge aus. Der demografische Wandel gilt als Tatsache, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für mehr Familienförderung im Rentensystem werden ignoriert. Stattdessen wird auf eine längere Lebensarbeitszeit gesetzt und die Rückkehr zur Vollbeschäftigung der „Wirtschaftwunder“-Ära suggeriert. Eine zahlenmäßig geschrumpfte, aber hochproduktive Nachwuchsgeneration könne demnach durch längeres Arbeiten die Rentenlast schultern. Plausibel ist dies aus zwei Gründen nicht:
Erstens wird die ohnehin vergleichsweise kleine Nachwuchsgeneration durch eine hohe Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen mitsamt deren Folgeproblemen geschwächt: Gesundheitliche Beeinträchtigungen, Entwicklungsdefizite und eine fehlende Förderung schon im Kindesalter münden in Kombination mit einer massiven Bildungs- und Ausbildungsbenachteiligung künftig bei vielen in dauerhaft geringen Arbeitsplatzchancen. Der demografische Wandel führt deshalb nicht zu einem parallelen Abbau der Arbeitslosigkeit. Durch den Rückgang der Zahl der Jungen wird es ab 2015 zwar zu einer Entlastung kommen – aber vornehmlich in den oberen High-Skill-Arbeitsmarktsegmenten. Bei insgesamt weniger Erwerbspersonen steigen die Qualifikationsanforderungen an die Jungen drastisch. Wer nur über Allerweltsqualifikationen verfügt und zusätzlich gar gesundheitlich beeinträchtigt ist, wird weiterhin mit Arbeitslosigkeit und sozialer Randstellung leben – und zur Rentenfinanzierung wenig beitragen.
Zweitens beeinflusst die formale Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters den tatsächlichen Rentenbeginn nur wenig. Trotz eines gesetzlichen Rentenalters von 65 liegt heute das durchschnittliche Renteneintrittsalter nur bei knapp über 60 Jahren. Vor allem aufgrund der geringen Arbeitsmarktchancen Älterer hat heute nur jeder Dritte zwischen 55 und 64 Jahren einen festen Job. Zwei von fünf Langzeitarbeitslosen sind älter als 55 Jahre. Arbeitslosengeld und -hilfe wurden für viele zur Ersatzrente. Einen großen Einfluss hat auch die gesundheitliche Situation: Ein Drittel aller Rentenneuzugänge kommt aufgrund einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zustande. Welchen Sinn macht das Plädoyer für eine längere Lebensarbeitszeit, wenn Politik sich gleichzeitig damit abfindet, dass aufgrund unbefriedigender Lebensverhältnisse immer mehr Kinder an Übergewicht, motorischen Störungen und chronischen Erkrankungen leiden ?
Weil Vollbeschäftigung eine Illusion bleibt, verschwimmen auch die alten Grenzen zwischen Ausbildung, Erwerbsphase und Ruhestand. Künftig wird es normal sein, dass sich im Lebensverlauf Zeiten der Erwerbstätigkeit mit Phasen von Fortbildung und freiwilliger oder unfreiwilliger Erwerbslosigkeit durchmischen. Mit den von der Rürup-Kommission geforderten neuen Rentenabsenkungen wird es zudem noch mehr Renten am Existenzminimum geben. Viele Senioren werden deshalb legal oder illegal auch über das 67ste Lebensjahr hinaus ihre kargen Renten oder Grundsicherungen durch kleine Jobs aufbessern. Und mancher wird es als Freiheitsgewinn werten, während der Familienphase eine längere Auszeit für die Kindererziehung und Fortbildung zu nehmen, um dann im Alter länger zu arbeiten.
In einer derart entgrenzten Arbeitsgesellschaft ohne Vollbeschäftigung schützen auch gute Sprachkenntnisse und Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse nicht vor Arbeitslosigkeit und biografischen Abstürzen. Aber sie stärken die Fähigkeiten, mit Unsicherheiten umzugehen, nach biografischen Brüchen neu zu beginnen und auch im letzten Lebensdrittel aktiv zu sein. Dazu sind heute massive Investitionen bei Bildung und Familienförderung erforderlich. Dies macht eine Umkehrung des Generationenvertrages unumgänglich: Damit die heute Jungen künftig länger arbeiten können, um ihrer Verantwortung für die dann Älteren gerecht zu werden, ist jetzt in der Familien- und Bildungspolitik eine stärkere Unterstützung von Kindern und Jugendlichen durch die ältere Generation nötig. Zumal sich deren Reichtum auch ihrem Ausstieg aus dem Generationenvertrag verdankt: Hätten sie so viele Kinder aufgezogen, wie für den Erhalt des Bevölkerungsbestandes erforderlich ist, müssten sie seit 1970 etwa drei Billionen Mark zusätzlich aufwenden. Da sie diesen Betrag nicht für den Nachwuchs investierten, stand er für die private Vermögensbildung zur Verfügung. HARRY KUNZ