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Archiv-Artikel

Frodo im Affenhaus

Das Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie hat seinen Sitz im Leipziger Zoo, in einer der wohl großzügigsten Anlagen Europas

Ein Vertrauen in die Lesbarkeit von Verhaltensdaten,das selten istDeshalb liebe sie Schimpansen, sagt eine Besucherin, weil die so hysterisch sind!

von CORD RIECHELMANN

Frodo sitzt vor einer der verschlossenen Türen und klopft. Es macht aber keiner auf. Also klopft er nach einer kurzen Zeit des Horchens an der Tür noch mal. Es ändert sich trotzdem nichts. Die Tür bleibt zu. Die Szene spielt im neuen Affenhaus des Leipziger Zoos, und Frodo ist einer der 17 Schimpansen, die im Haus eine eigene Bühne bespielen. Die anderen Areale werden von Orang-Utans, Gorillas und Bonobos besetzt. Zusammen bilden die Innen- und Außenbereiche für die Menschenaffengruppen in Leipzig eine der räumlich großzügigsten Anlagen in Europa. Immer wieder kommen ganze Gruppen durch die automatischen Glastüren ins Rondell. Die Menschenaffen sind innerhalb kürzester Zeit zu Publikumslieblingen geworden.

Das hat wahrscheinlich auch mit der Einrichtung der Räume zu tun. Mit der sonst in Zoos üblichen rechtwinkligen Kachelkastenarchitektur hat sie nichts mehr gemein. Die Hintergrundwände sind mit efeuartigen Pflanzen bedeckt. Auf dem Boden liegt richtige Erde, und durch die gewölbte Dachkonstruktion dringt Tageslicht auf Blätter und Affen. Und als ob die Rundungen und Wellenformen, die den rechten Winkel verdrängten, noch eine naturalistische Entsprechung forderten, plätschert auch eine Art Bach durchs Gelände.

Trotzdem wirkt Frodo vor der Tür etwas verwirrt. Er kratzt sich erst am Fell über den Rippen, dann oben auf den wirren Kopfhaaren, rennt plötzlich los, wie von der Tarantel gestochen, schlägt einem spielenden Kind auf den Rücken und presst seine Lippen so grotesk zusammen, dass sie unter dem Druck zu platzen drohen. Womit die Ruhe dahin ist. Wer vorher still allein oder in Gesellschaft im Gelände saß, springt auf, fängt an zu bellen und sträubt die Haare. Andere kreischen dazwischen und verfallen in spasmusartige Zuckungen. Der hysterisch anschwellende Chorus dauert etwa dreißig Sekunden. Danach steht man noch kurz mit vibrierenden Haaren im Kreis, atmet laut aus und geht langsam wieder auseinander. Frodo, mit hängenden Schultern etwas eingeknickt, setzt sich neben seine Mutter Natasha. Die ihm aber demonstrativ den jüngeren Bruder Brent vorzieht. Der eben noch so virile Draufgänger sieht kurz wie ein Witz aus, berappelt sich aber schnell und verlässt den Mutterverein mit nach drei Metern wieder sicherem Gang.

Deshalb liebe sie die Schimpansen so, sagt eine Besucherin, weil die so hysterisch sind! Die Mehrzahl der Besucher bleibt deutlich länger vor dem Schimpansenpanoroma stehen. Was nicht nur daran liegt, dass Orang-Utans und Gorillas generell ruhiger und langsamer agieren als Schimpansen. Den anderen Gruppen fehlt einfach ein Frodo. Ein junger Mann, der viel unterwegs ist und nicht selten Auslöser der kurzen, lauten sozialen Eruptionen. Frodo, 1993 geboren, ist in dem Alter, in dem männliche Schimpansen anfangen, sich aus der Geburtsfamilie zu lösen, ohne schon zu wissen, wo sie nun hin sollen.

Das kann merkwürdige Folgen haben. Frodo hat einen in der Schimpansenforscherwelt ungleich bekannteren Namensvorgänger in Tansania. Jane Goodall, die Pionierin der modernen Schimpansenfreilandforschung, die 1960 nur mit ihrer Mutter und einem Koch in den Dschungel zog, hat einschlägige Erfahrungungen mit jenem Frodo im Gombe-Nationalpark am Tanganjikasee gemacht. Der entwickelte sich durch ständiges Üben im Alter von acht Jahren zu einem begeisterten und treffsicheren Steinewerfer. Seine Zielobjekte waren bei dem Spiel vor allem Frauen. „Es war nicht klar, ob das Ziel dieser Wurfattacken eine Schimpansin oder ich war – so flüchteten wir beide.“

Goodall erinnert sich noch heute schmerzhaft an die vielen blauen Flecken, die Frodos Attacken ihr beibrachten. Dass es bei blauen Flecken blieb, verdankt Goodall auch ihrer Schnelligkeit, denn auf dem Höhepunkt seiner Kunst warf Frodo mit bis zu acht Kilogramm schweren Steinen. Das allein wäre noch nicht bemerkenswert. Denn dass Tiere mit Gegenständen werfen, ist nicht selten. So werfen zum Beispiel Schmutzgeier gezielt mit Steinen auf Eier, die sie sonst nicht öffnen können. Es war die Konstellation der Tiere, die dies Verhalten zeigten, die dem Befund Beachtung eintrug. Nur wenige Schimpansen in Gombe bedienten sich dieser Technik. Die meisten Tiere zeigten kein Interesse an der Handlung, und die, die zu Steinen griffen, waren in der Regel eng verwandt oder befreundet. Goodall vermutete deshalb, dass sie durch Beobachtung voneinander lernten und sich so in der Familie eine Art Tradition des Werfens entwickelte. Die allerdings auch Schwächen hatte. Denn die Werfer zeigten erhebliche individuelle Unterschiede, was sowohl die Treffsicherheit wie auch die Auswahl der Steine betraf. Mancher brachte es nur zu einem Kieselwurf, der hinter seinem Rücken wieder runterkam. Das wirft einige Fragen auf, auch für Leipzig.

Die Leipziger Menschenaffen sind freilich nicht nur „normale“ Zootiere, sie sind auch Forschungsobjekte. Direkt im Affenhaus befindet sich das Wolfgang-Köhler-Zentrum für Primatenforschung am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Und die enge Zusammenarbeit zwischen Institut und Zoo kommt den Tieren in mehrfacher Hinsicht zugute. Sie gewährleistet nicht zuletzt durch die finanzielle Ausstattung des Max-Planck-Instituts eine herausragende Betreuung, und die vorbildlichen methodischen Grundsätze muten den Tieren keinerlei invasive Eingriffe zu. Die Beobachtungen bleiben strikt an der Oberfläche. Das zeugt von einem Vertrauen in die Lesbarkeit von Verhaltensdaten, das inzwischen sehr selten geworden ist.

Der amerikanische Psychologe Michael Tomasello, Leiter der Abteilung für Entwicklungspsychologie am MPI, der die Forschungen im Zoo koordiniert, ist der Skeptiker und Kritiker aller bisherigen Berichte von kulturellen Errungenschaften und Vermittlungen im Tierreich. In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenem Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ entwirft er ein Modell des menschlichen Geistes gerade in Abgrenzung zu unter Tieren beobachteten sozialen Lernvorgängen. Wobei Tomasello nicht bestreitet, dass „Schimpansen sehr intelligent und kreativ beim Gebrauch von Werkzeugen und dem Verstehen von Veränderungen in der Umgebung sind, die durch den Werkzeuggebrauch anderer hervorgebracht werden.“ Nur „scheinen sie das instrumentelle Verhalten von Artgenossen nicht in derselben Weise wie Menschen zu verstehen“, wie Tomasello schreibt. Zwei Wörter sind in diesem Satz wichtig: scheinen und verstehen. Was nämlich in einem Schimpansen vorgeht, der einem anderen dabei zusieht, wie er mit einem Stein eine Nuss knackt und etwas später dann dasselbe Verhalten zeigt – eben dass er auch eine Nuss mit Hilfe eines Steines knackt –, könne man aus der bloßen Beobachtung des Vorgangs nicht schließen. Um die Mechanismen, die dem Lernprozess zugrunde liegen, genau zu beschreiben, bedürfe es immer der experimentellen Überprüfung, kann man Tomasello zusammenfassen. Und diese experimentellen Prüfungen finden in Leipzig teilweise vor den Augen des Publikums oder aber hinter den Türen statt, an die Frodo gerade eben noch mal – wieder ohne Erfolg – klopft.

Für die Tiere im Affenhaus scheint genau diese „Nutzung“ ein doppeltes Glück zu sein. Der Leipziger Frodo hat nämlich die Berge und Wälder Afrikas nie gesehen. Wie alle anderen Affen in der Primatenstation ist er bereits in Gefangenschaft geboren. Sie stammen alle entweder aus anderen euopäischen Zoos oder Forschungseinrichtungen, in denen sie kaum so komfortabel untergebracht waren und zumindest in den Forschungszentren auch nicht so sicher vor physischen Eingriffen gewesen sein dürften wie hier. Als erklärter Gegner eines Reduktionismus, der gesellschaftliches Leben auf physische Dinge wie Gene oder Neuronen reduziert, bleibt Tomasello auf das Verhalten „ganzer“ Organismen angewiesen. Und deren Persönlichkeit bildet sich nicht nur bei nichtmenschlichen Primaten in stabilen Sozialgefügen besser als in labilen, die jeden Moment auseinander zu brechen drohen. Die Haltungsbedingungen für die Affen in Leipzig sind also sozusagen die Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit.

Und stabil scheint die Schimpansengruppe in Leipzig zu sein. In der baumähnlichen Struktur der Anlage sitzen drei Frauen und zwei Kinder über- und nebeneinander und berühren sich mal kurz oder streichen sich länger durchs Fell, während die Kleinen zwischen den Dreien hin- und herspringen. Zu hören ist dabei mit Ausnahme der Rufe einiger Vögel, die mit den Affen wohnen, nichts. Selbst Frodo ruht, wird allerdings von seinem kleinen Bruder mit jener konzentrierten Bewunderung beobachtet, die in der Regel dazu führt, dass der Kleine in sieben Jahren genauso geht und klopft wie Frodo. Ob der Kleine dabei mehr sieht, als nur die Bewegungen seines Bruders, ist eine der zentralen „Leipziger Fragen“.

Für Tomasello ist es fraglich, ob Schimpansen die Gedanken und Absichten anderer Artgenossen lesen können und damit zum Beispiel wissen, ob der andere dasselbe oder etwas anderes weiß und sie dies zu nutzen wissen, indem sie ihn etwa reinlegen. Mit seinen Mitarbeitern hat er einige Tests entwickelt, die darüber Auskunft geben. In dem wohl bekanntesten Versuch werden zwei unterschiedlich starke Schimpansen mit zwei Früchten konfrontiert. Während der Schwächere beide sehen kann, sieht der Starke nur eine. Mit dem Ergebnis, dass der Schwache, der normalerweise in Gegenwart eines Überlegenen nicht wagen würde, zuzugreifen, die verborgene Frucht an sich nimmt. Was den Schluss nahe legt, dass diese Schimpansen wissen, was der andere sehen kann. Und das ist etwas vollkommen anderes, als bloß die Wahrnehmung der Bewegungen eines Artgenossen.

Tomasellos Skepsis hat ihn allerdings sowieso nicht seines Möglichkeitssinns beraubt. In Leipzig arbeiten sie auch mit komplizierten Aufgabenstellungen, in denen getestet wird, ob mehrere Schimpansen bei einer Aufgabe, die sie allein nicht bewältigen könnten, tatsächlich kooperieren, oder ob sie eher zufällig Hand in Hand arbeiten und es nachher nur so aussieht als ob sie zusammengearbeitet hätten. Ein Versuch, dessen Ergebnis genauso offen ist wie die Tatsache, dass eventuell der Leipziger Frodo überhaupt erst durch den Versuch auf den Geschmack der intelligenten Kooperation kommt und seinem kleinen Bruder die merkwürdigsten Dinge beibringt. Dann allerdings muss Tomasello sein Buch umschreiben.