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Archiv-Artikel

Einmal in der Woche Versteckenspielen

Nur ein Sechstel der Kinder ist nachmittags im Hort oder in der Ganztagsschule – der Rest muss die Zeit zwischen Hausaufgaben, Computer und Inlineskaten selbst oder mit Elternhilfe gestalten. Der heikelste Punkt ist die Beschränkung der Zeit vor dem Computer am Nachmittag

BERLIN taz ■ So sieht sie aus, die perfekte Kindheit in den Köpfen mancher Nostalgiker: Der Nachwuchs kommt aus der Schule, macht flugs ein paar Hausaufgaben und entschwindet dann mit Freunden in Park oder Wald, um Verstecken zu spielen und die freie Natur zu entdecken. Weil die Kinder heute aber lieber vor dem Computer hängen oder fernsehen und außerdem meistens kein Wald vor der Tür ist, häufen sich die Schreckensmeldungen über innerlich verwahrloste Kids. Nur die Ganztagsbetreuung könne hier Abhilfe schaffen. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Höchstens jede sechste Schulkind in Deutschland hat eine organisierte Nachmittagsbetreuung in Form eines Hortplatzes oder einer Ganztagsschule, schätzt Stefan Appel, Leiter des Ganztagsschulverbandes. Die Mehrzahl der Schulkinder muss sich ihren Nachmittag selbst und mit Elternhilfe gestalten. Das ist nicht einfach, vor allem in einer städtischen Umgebung. So stellte das Institut für Sport und Sportwissenschaft in Karlsruhe fest, dass ein Viertel der befragten Schüler in den Grundschulklassen nur noch maximal einmal pro Woche im Freien spielen und dass die Kinder heute im Schnitt etwa neun Stunden im Sitzen verbringen, weil die Zeit vor dem Computer und dem Fernseher zugenommen habe.

Doch das Wohnumfeld macht hier große Unterschiede. Die Psychologin Maria Limbourg von der Universität Essen unterschied beispielsweise zwischen Wohnumfeldern mit einer guten „Aktionsraumqualität“, also wenig Verkehr und größeren Grünflächen, und solchen, bei denen das nicht gegeben ist. In den „guten“ Umfeldern spielten die Kinder durchschnittlich 90 Minuten am Tag mit Gleichaltrigen, und zwar meist ohne Aufsicht. Kinder, die hingegen inmitten von viel Straßenverkehr aufwuchsen, kamen nur eine halbe Stunde am Tag nach draußen und das meist unter Aufsicht.

Draußen spielen hat dabei auch recht prosaische Ursachen: Der Verkehrsexperte Philipp Spitta wies darauf hin, dass besonders viele Kinder aus Migrantenfamilien in den Städten auf der Straße spielen, einfach weil die Wohnverhältnisse beengt sind. Immerhin spielen deutsche Kinder noch mehr im Freien als der amerikanische Nachwuchs, ergab eine internationale Studie des dänischen Lego-Learning-Instituts in Billund.

Die Kinder toben also durchaus auch heute noch draußen herum, nur eben auf modernem Sportgerät wie Inlineskates oder BMX-Rädern. Dennoch üben die Computerspiele einen großen Reiz aus: Die Kernfrage vieler Eltern heute lautet, wie man die Computerzeit begrenzen und die Kinder mehr zu Bewegungsaktivitäten draußen verleiten kann. Es gibt schon Softwareprogramme, die die Computerzeit wie Taschengeld beschränken und dann den Rechner herunterfahren. Die Sprecherin der Hauptstelle gegen Suchtgefahren in Hamm, Christa Merfert-Diete, schlägt vor, dass die Computerzeit einfach nicht die Zeit für Bewegungsaktivitäten übersteigen soll. Doch Computerspielen ist für viele Kinder eine sehr soziale Aktivität und man kann auch im Freien stumpfsinnig herumhängen. Zudem ist die Sache mit dem Computer und dem Fernsehen auch eine Frage der Bewertung: In der Lego-Studie beispielsweise gaben die meisten japanischen Eltern an, das Fernsehschauen der Kinder auch als „Spiel“ zu betrachten, während für die meisten Deutschen nur das Herumtoben auf dem Spielplatz, Basteln und Malen als „Spielen“ durchgehen.

Die gestressten Eltern selbst hängen also ihren eigenen Träumen nach, wenn es um die Bewertung der kindlichen Aktivitäten geht. Und sie sind hin- und hergerissen zwischen Wünschen und Zwängen: 60 Prozent der deutschen Eltern glauben, dass die Tage der Kinder heute zu sehr verplant sind – aber die Hälfte der Eltern würde ihre Kinder auf eine Ganztagsschule schicken, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

BARBARA DRIBBUSCH