Volle Kanne Penne

Die nun von München bis Kiel und von Düsseldorf bis Dresden entstehenden Ganztagsschulen werden so vielfältig sein wie die Schulkonzepte der Länder

Mit Widerstand der Erziehungsfundis rechnet nun ernsthaft niemand mehr

von CHRISTIAN FÜLLER

Wird ab morgen eine Klagewelle gegen staatliche Zwangsbeschulung anrollen? Mancher befürchtet das. Denn gestern besiegelten die Kultusminister von Bund und Ländern schriftlich, mehr Ganztagsschulen in Deutschland einzurichten. Das heißt, auch in Deutschland können die Kids bald länger in der Schule bleiben. Dafür können und müssen Eltern ein Stück ihres Erziehungsrechts abgeben.

56 Prozent der Deutschen, so sagen es die Umfragen, würden es begrüßen, wenn Kinder bis Nachmittags Unterricht haben. Für den früheren sachsen-anhaltinischen Kultusminister aber wurde schon ein weniger ambitionierter Versuch zum Albtraum. Als Gerd Harms der Grundschule seines Landes feste Öffnungszeiten geben wollte, ging der Schuss – zunächst – nach hinten los.

Eine Handvoll Erziehungsfundamentalisten klagte gegen Harms. Weil der Schulminister den Eltern für weitere sechs Stunden pro Woche die Kinder entzöge und somit ihr grundgesetzliches Erziehungsrecht verletze. Die Eltern verloren zwar schließlich. Aber sie klagten sich zuvor durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht.

Bei dem neuen bundesweiten Programm für Ganztagsschulen kann von Zwangsbetreuung allerdings keine Rede sein. Die nun von München bis Kiel und von Düsseldorf bis Dresden entstehenden Ganztagsschulen werden so vielfältig sein wie die Schulkonzepte der Länder – und so kompliziert.

Nur in der Idealdefinition nämlich bedeutet „Schule den ganzen Tag“ die Möglichkeit, mit Schülern von 8 bis 16 Uhr einen ganz neuen Unterricht zu machen. Bildungsexperten verstehen darunter eine Mischung von klassischem Unterricht, Projektphasen, Freizeit, aktiven Pausen, Selbstlernzeiten und dem Mittagessen natürlich. Das Konzept soll eine Antwort auf die Mängel der deutschen Schule sein, die in der Pisa-Studie aufgedeckt wurden. Und wäre eine pädagogisch viel versprechende Melange von Lernen und Freizeit, die bei der deutschen Normalschule zwischen acht bis eins bisher nahezu unmöglich war. Auch Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) wünscht sich einen solchen Wechsel in der Schulkultur. Jedenfalls hört sie nicht auf, das zu sagen.

In der Realität von 16 Bundesländern wird Ganztagsschule freilich immer etwas anderes sein. Das wichtigste und größte Bildungsland Nordrhein-Westfalen etwa fördert nur Grundschulen als Ganztagsschulen – und verändert sie dabei ganz grundsätzlich. Viele östliche Bundesländer werden hingegen überhaupt keine neuen Ganztagseinrichtungen bauen, sondern ihre alten renovieren.

In Hessen wiederum gilt als Ganztagsschule selbst eine Penne, die schlicht ein Nachmittagsangebot aufweist. Hessens Kultusministerin Karin Wolff (CDU) hat sich in einer Protokollnotiz ausdrücklich ausbedungen, dass auch ihre Schmalspurversion als Ganztagsschule gilt. Die amtierende Vorsitzende der Kultusministerkonferenz will so an die Bundesgelder für Ganztagsschulen heran, obwohl sie das Konzept des Bundes eigentlich nicht mag.

Wolff und ihre Unionskollegen haben es verstanden, die Ganztagssschulidee von Anfang an zu hintertreiben. Den Konservativen stank, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Verkündung eines nationalen Kraftaktes für Ganztagsschulen vergangenes Jahr nicht nur die grandiose Pisa-Scharte der SPD-Bundesländer auszuwetzen verstand. Schröder hatte noch dazu einen prima Wahlkampfgag: Er versprach vier Milliarden Euro für etwas zu spendieren, was bildungs-, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitisch bei Arbeitgebern, Gewerkschaften und Eltern Applaus findet.

Die Unionschristen verzögerten und verwässerten also, wo sie nur konnten. Karin Wolff und die Hauptgegnerin des Projekts, Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU), klagten immer wieder, dem Bund fehle das Geld. Sie mahnten Veränderungen der deutschen Finanzverfassung an, um die Milliarden selbst in die Hand zu bekommen. Und sie jammerten, dass Bundesbildungsministerin Bulmahn sich unverschämt in ihre Kulturhoheit einmische.

Das Konzept soll eine Antwort auf die Mängel der deutschen Schule sein

Am Ende freilich half alles nichts. Die Ganztagsschule hat sich binnen eines Jahres durchgesetzt – als politische Idee. Zum Schluss musste sich sogar Monika Hohlmeier beeilen, um auf den Zug aufspringen zu können. Mit ihren Unionskollegen weichte sie in der KMK flugs die Beschreibung dessen auf, was eigentlich eine Ganztagsschule ist. Seit Ende März liegt nun eine Definition vor. Nur so ist die wundersame Vermehrung der Ganztagsschulen in Bayern zu verstehen. Gab es im August 2001 nur 16, sind es inzwischen 416.

Dennoch wird sich die Zahl der Ganztagsangebote nun schrittweise in ganz Deutschland weiter erhöhen. Ab heute können Schulrektoren beantragen, den ganzen Tag Schule zu machen.

Eigentlich hat die neue Ära schon begonnen. Bei Frau Bulmahn gehen, obwohl sie auf Wunsch ihrer Länderkolleginnen nicht zuständig sein darf, täglich Anfragen von Schulen und Eltern ein. Und in Sachsen-Anhalt liegen bereits 20 Anträge für Ganztagsschulen vor. In Rheinland-Pfalz, das in eigener Regie ein ähnliches Programm gestartet hatte, gab es binnen eines Jahres 80 neue Ganztagsschulen.

Rechnet man die Zahlen hoch, dürfte es kommenden Sommer rund 1.000 deutsche Schulen mit Ganztagsbetreuung mehr geben. Und mit Widerstand von Seiten der Erziehungsfundis rechnet nun niemand mehr. Sachsen-Anhalts neuer Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz (parteilos) jedenfalls wirkte gestern ausgesprochen fröhlich, als er das Ganztagsschulprogramm unterzeichnete. Für ihn muss diese Initiative kein Albtraum werden.