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Archiv-Artikel

Kostümprobe für die Autokratie

Putins Wahlsieg wird die Demokratie in Russland schwächen. Und er bestätigt die Schwäche seiner Gegner. Das Land braucht nun dringend eine starke Zivilgesellschaft

Um Demokratiegeht es wederPutin und seinenAnhängern noch den Oligarchen

Der junge Zar Alexander I. fragte einst während des Unterrichts seinen Lehrer, worin sich Monarchie von Tyrannei unterscheidet. Die Macht sei doch in beiden Fällen unbegrenzt. „Ein Monarch“, antwortete der Lehrer, „untersteht niemandem und macht die Gesetze. Ihnen ordnet er jedoch sich unter. Ein Tyrann verletzt auch Gesetze, die er selbst gemacht hat.“

Stimmt diese Definition, dann wird Russland derzeit von einem Monarchen regiert. Natürlich ist Putin kein Alleinherrscher im engeren Sinn. Neben reichlichem Chaos und kaum verhüllter Vetternwirtschaft hat ihm sein Vorgänger Boris Jelzin immerhin ein paar demokratische Normen vererbt. Eine davon ist die Präsidentschaftswahl. Das ist nicht wenig. Schließlich hat Russland mehr Tyrannen als Monarchen erlebt.

Dennoch spricht viel dafür, dass sich mit Putins fast sicherer Wiederwahl Russlands Weg in die Autokratie vollendet. Galten unter Jelzin Presse- und Meinungsfreiheit, Parteienvielfalt und ein Minimum an horizontaler Machtteilung noch als Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt, so erweist sich Putin als kompromissloser Usurpator der Macht. Staatliche Fernsehsender verkommen zu Propagandaininstrumenten des Präsidenten, während die Duma noch nie in der russischen Geschichte so beschnitten war.

Der Verfall der Demokratie spiegelt sich auch in Zahlen wider. 1993 stimmten 41 Prozent aller Wähler für verschiedene demokratische Parteien, die nicht der Regierung nahe standen. 1995 waren es nur 17, 1999 rund 14 Prozent. Jetzt sind es nur noch 10 Prozent. Verlief noch unter Jelzin die Front zwischen den demokratischen Parteien und den Kommunisten, so verläuft sie heute zwischen Putin-Anhängern und Putin-Gegnern. Der Trend zur dirigierten Gesellschaft ist unübersehbar, zu streiten ist allenfalls über die Deutung: Ist das Russland Putins ein zwar übles, gleichwohl notwendiges Übergangsstadium auf dem Weg in die Modernität oder gar die prinzipiell einzige Möglichkeit, den Staat zu regieren?

Gewiss, wer will, findet in der Geschichte genügend Belege dafür, dass Autokratie die für Russland adäquate Herrschaft darstellt. Russland hat in der Tat nie den Citoyen der Französischen Revolution von 1789 kennen gelernt, jenen Bürger, der im Bewusstsein, dass der Staat für ihn eintritt, selbst für seinen Staat eintritt. Das byzantinische Denken und die Orthodoxie, die Russland im Jahre 988 mit der Taufe des Großfürsten von Kiew, Wladimir, übernahm, prägte die Trinität Gott, Zar, Vaterland, die noch heute ihre Spuren hinterlässt. Seit Iwan dem Schrecklichen hat sich politische Macht fast ausschließlich in Kategorien des Absolutismus und der Autorität dargestellt.

Gesetze wurden nicht verabschiedet, um die Allmacht des Staates zu zügeln, sondern um die Autokratie der Zaren zu sichern. Umgekehrt zielten russische Revolutionen nicht auf die Errichtung eines Bürgerstaates, sondern einer Diktatur, in der bereits die Aufhebung von Privilegien der herrschenden Klasse als die Lösung sozialer Konflikte angesehen wurde. Das Ergebnis war Gleichmacherei statt Gerechtigkeit, Diktat statt Freiheit.

Recht war in Russland deshalb immer das Recht des starken Staates, kam er nun als autoritäre Monarchie oder kommunistische Parteiherrschaft daher. Freiheit definierte sich folglich in erster Linie als Abwesenheit des Staates. Die daraus zwangsläufig erwachsende Anarchie führte wiederum zum Ruf nach einer starken Autokratie. Ein Teufelskreis. Nur, was folgt daraus? Der starke Staat oder doch die starke Zivilgesellschaft?

Die politische Front in Russland verläuft heute zwischen den beiden entscheidenden Machtblöcken: den einst von Jelzin gehätschelten Oligarchen und den Putin stützenden Geheimdiensten, Armeespitzen und neuen politischen Nomenklaturkadern. Um Demokratie geht es dabei weder der einen noch der anderen Seite. Putin versus Oligarchen: Das ist letztlich der Kampf zwischen Raubkapitalismus, auch wenn er sich in Russland gezähmter zeigt als zu Jelzins Zeiten, und autoritärem Regime. Ein Sieg Putins in diesem Elefantenkampf wird allenfalls ein zertrampeltes Feld hinterlassen, nicht aber mit Demokratie enden.

Putin selbst sieht seinen fast sicheren Wahlsieg aufgrund der Zustimmungsrate von 70 bis 80 Prozent, dem Fehlen ebenbürtiger Herausforderer und vor dem Hintergrund des derzeitigen Wirtschaftswachstums als das Ergebnis einer demokratischen Willensbildung. In Wahrheit sind die Wahlen eine Kostümprobe für die kommende Autokratie. Denn ähnlich wie für Stolypin zählt auch für Putin nicht die Schaffung einer demokratischen Ordnung, sondern die Konsolidierung der vertikalen Macht. Und ebenso wie Stolypin die zweite Staatsduma, die 1906 zusammentrat, nur so weit duldete, wie sie seinen Vorgaben folgte, benutzt Putin das Parlament als Beigabe des Staates. Damit wiederholt der russische Präsident den wohl eklatantesten Fehler der Russischen Revolution von 1917, als die Bolschewiken glaubten, die Phase der bürgerlichen Demokratie überspringen oder ignorieren zu können.

Eine echte Volksvertretung, Meinungsvielfalt und parlamentarische Kontrolle der Regierung – all das galt nicht etwa als Voraussetzung für eine stabile Gesellschaft, sondern als Zeichen von Schwäche der zentralen Macht. Der Mangel an zivilgesellschaftlichen Standards ist die wohl verhängnissvollste Folge der jüngeren russischen Geschichte. Jetzt diese Normen zum verzichtbaren Luxus zu erklären, wie es Putin und der Westen tun, heißt, die demokratische Entwicklung auf unabsehbare Zeit zu verschieben.

Russland hat in der Tat nie den Citoyen der FranzösischenRevolution von 1789 kennen gelernt

Bisherige Präsidentschaftswahlen haben mit Gorbatschow und Jelzin Figuren an die Macht gebracht, deren vordringlichste Aufgabe die Zerstörung des bestehenden Systems war. Darin unterscheidet sich Putin von seinen Vorgängern. Die jetzigen Wahlen entscheiden über den Ausgang des liberalen Experiments in Russland. Sie beenden das alte Kapitel und eröffnen ein neues, das die Richtung der nächsten Jahre – vermutlich irreversibel – bestimmen wird.

Putin steht vor drei Herausforderungen, an deren Bewältigung er sich messen lassen muss. Das ist zum einen Legitimität. Auch ein starkes Präsidentenamt kommt ohne politische Mandatierung durch die Wähler nicht aus. Wahlsiege sind keine Freibriefe für Klüngelinteressen, sondern Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft. Des weiteren Berechenbarkeit. Bis jetzt hat Putin bis zu einem gewissen Grad die Macht geteilt. Fehlschläge ließen sich so der Duma oder dem inzwischen entmachteten Jelzin-Clan anlasten. Nach seiner Wahl wird Putin zwar stärker als je zuvor sein, aber auch in der Verantwortung stehen wie keiner seiner Vorgänger.

Drittens schließlich wird der Präsident daran zu messen sein, ob er die Kontinuität der Gesellschaft sichern kann. Putin mag sich in der Rolle des Modernisierers sehen. Nur, ohne Demokratie wird dieser Anspruch zum technokratischen Stückwerk verkommen. KOSTAS KIPUROS