piwik no script img

Archiv-Artikel

peter ahrens über Provinz Ein Schlepperballett

Hamburger Hafenfest, „Big Brother“ und Jenever – das kann nicht gut enden

KOPFWEH. Das muss man in Großbuchstaben schreiben. Ich mache die Augen zu. Irgendetwas muss vorgefallen sein. Ja, da war was. Selbst gebrannter niederländischer Jenever. Und Hamburger Hafengeburtstag. Und jetzt ist Sonntag, es läuft der Fernseher, und Jürgen Flimm erzählt, wie er und Marius Müller-Westernhagen und Manfred Bissinger gern abends zusammensitzen und bei einer Flasche Grappa die Weltlage im Allgemeinen und die persönliche Befindlichkeit des Bundeskanzlers im Besonderen erörtern. Ich versuche mir, einen solchen Abend vorzustellen, wie die drei im Rausch ihres sozialdemokratischen Intellekts beim Schnaps die Schröder’sche Regierungspolitik auf Linie bringen. Flimm berichtet noch, dass die Frauen artig die Runde verlassen, wenn die Grappaflasche auf den Tisch kommt. Die Kopfschmerzen werden stärker.

Es hatte harmlos begonnen. Die Sonne hatte geschienen, und 1,2 Millionen Menschen mit roten Gesichtern hatten sich an den Landungsbrücken entlang geschoben. Fast so ein Samstags-Massenevent wie die Antikriegsdemos vor Wochen, nur dass die Leute jetzt Schlange stehen, um sich die Fregatte „Bayern“ der deutschen Seestreitmacht mal lebensecht von Bord aus ansehen zu dürfen. Ein so genannter Moderator schreit auf der Radio-Hamburg-Bühne immer wieder: „Dies ist der 814. Hamburger Hafengeburtstag.“ Oder war es die NDR-Bühne? Höhepunkte jagen einander: Stündlicher Pendelverkehr mit der Hummelbahn. Flugmanöver des Polizeihubschraubers BO 105, Trauung auf der Schwimmenden Kirche, Bungee-Katapult in der Lotto-Zone. Und natürlich das Schlepperballett. Ich bin froh, dies meinem Besuch aus den Niederlanden zeigen zu können. Die Schlepper fahren rückwärts und vorwärts, manchmal im Kreis, und dazu spielt die Musik aus Lautsprechern „My Heart will go on“ aus „Titanic“. Trotzdem: Kein Schlepper sinkt. Es fängt an zu regnen.

In meinem Fernsehapparat lümmelt sich gerade die RTL2-„Big Brother“-Crew auf dem Sofa: Ein „Big Brother“-Typ hat einer „Big Brother“-Frau einfach mal so seinen Schwanz gezeigt. Und das gibt natürlich Grund für eine ausgiebige Nachmittagsdiskussion. Der Typ versteht das ganze Palaver nicht und sagt: „Wir sind doch alle in dem Alter, wo das niemanden mehr aufregt.“ Anschließend malen sie alle kleine Glückwünsche für ihre Mamas daheim zum Muttertag. Mein Kopf ist ein Bergwerk, in dem momentan ordentlich Abbau betrieben wird.

Was kam nach dem Schlepperballett? Das Feuerwerk. Na klar, ein Feuerwerk. Es ist etwas Schönes, ein Feuerwerk anzuschauen und dabei aus Holland mitgebrachten selbst gebrannten Jenever zu trinken. Danach auf die Reeperbahn, man muss doch einmal die Reeperbahn sehen, wenn man noch nie in Hamburg war. Führerscheinneulinge, Schulabgänger aus Niedersachsen oder Mecklenburg wogen vorbei, immer wieder nur die eine Frage auf den Lippen: „Entschuldigung, wissen Sie, wo die Herbertstraße ist?“ Damit sie daheim ihren Kumpels von der Freiwilligen Feuerwehr Neukamperfehn erzählen können, wie sie den Sperrbezirk gestemmt haben. Als sie vor der Herbertstraße stehen, drehen sie wieder um. Ansonsten überall HSV-Schals um dicke Hälse. 4:1, das Jubeln ist schon heiser: „Wir singen: Bayer, Bayer, Zweite Liga, oh ist das schön, euch nie mehr zu sehen.“

In meinem Fernsehapparat ist derweil Effe. Im Hintergrund ist das Plakat zu sehen: Effe steht, Claudia Struntz kniet, und Moderator Oliver Welke macht einen Witz: „Mein Sohn hat mich gefragt, ob die da Topfschlagen machen. Nein, habe ich gesagt, die spielen Fang die Wurst.“ Alle lachen. Nach seinen Zukunftsplänen befragt, sagt Effe: „Wer 17 Jahre gearbeitet hat, hat ja wohl das Recht, ein paar Jahre in aller Ruhe die Beine hochzulegen.“ Keiner lacht. Ich rechne nach, wie viel Berufsjahre ich bisher schon hinter mir habe. Die Kopfschmerzen hören nicht mehr auf. Und auch eine Jeneverflasche ist irgendwann leer.

Fragen zur Herbertstraße? kolumne@taz.de