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Archiv-Artikel

Unkritische Wiedergabe

betr: „Türkische Familien bieten bei Armut mehr Halt“, taz vom 25.2.2003

Mit Befremden haben wir (...) das Interview mit dem Kölner Stadtsoziologen Jürgen Friedrichs gelesen - Befremden nicht nur angesichts der hier vertretenen Positionen, sondern vor allem auch angesichts eurer unkritischen und unkommentierten Wiedergabe.

(...) Es hat den Anschein, dass innerhalb des Projektes weniger nach dem gefragt werden soll, was den BewohnerInnen an ihren Vierteln gefällt oder nicht gefällt oder was sie vorschlagen, um die Lebenssituation innerhalb der Quartiere zu verbessern. Vielmehr wird doch in dem Interview sichtbar, dass anhand eines dichotomischen Gerüstes von „Normalität“ und „Abweichung“ das Vorhandensein und die Gründe für abweichendes Verhalten der QuartiersbewohnerInnen erforscht werden soll. Als Akteure kommen die Menschen dabei nur wenig vor! Dabei ist die ungebrochene Verwendung des Begriffes „abweichendes Verhalten“ sehr wohl diskussionswürdig und es stellt sich die Frage, ob man dieses unter einem anderen Blickwinkel nicht ebenso in Vierteln wie Marienburg finden kann (man denke nur an Steuerhinterziehung).

(...) Die strukturellen Bedingungen, die das Leben in den Quartieren prägen, wie Armut, hohe Arbeitslosigkeit oder auch die mangelnde Infrastruktur der Quartiere selbst, geraten in den Hintergrund. In den Vordergrund gestellt werden hingegen die Verhaltensweisen der Menschen. (...) Die in diesem Interview vertretene Position arbeitet mit an einem weit verbreiteten Diskurs über randständige Quartiere (...). Denn wenngleich eure Überschrift anderes verspricht und auch innerhalb des Artikels kurz von der stabilisierenden Wirkung türkischer Haushalte die Rede ist, liegt der Fokus doch auf den Defiziten und der Normabweichung.

Diese Sichtweise findet sich seit längerem im Mainstream der Stadtsoziologie: So plädiert beispielsweise der bekannte Stadtsoziologe Hartmut Häußermann seit einigen Jahren für die Wiederherstellung einer „sozialen Mischung“ in diesen Quartieren und setzt auf die „stabilisierende Wirkung von Mittelschichtsnormen“. Auch hier geraten die strukturellen Bedingungen in den Hintergrund und es wird primär normativ argumentiert.

Auch ist der Begriff der „überforderten Nachbarschaften“ inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden - Nachbarschaften, die sich durch die Konzentration der so genannten „A-Gruppen“ (gemeint sind Arbeitslose, Alte, Ausländer und Alleinerziehende) und daraus folgende Formen der Abweichung auszeichnen. Und auch die mediale Berichterstattung bastelt an diesem Bild mit, indem sie vor allem skandalisierende Berichte über diese Viertel veröffentlicht. Mit diesem Artikel folgt auch ihr dieser Sichtweise und ihr bedient sie darüber hinaus noch mit eurer Bebilderung, indem ihr ein Foto mit einem Wohnhaus abdruckt, vor dem Sperrmüll zu finden ist. (...)

Erika Schulze, Erol Yildiz, Susanne Spindler, Ugur Tekin, Gerda Heck, Markus Ottersbach, Claudia Nikodem (MitarbeiterInnen der Forschungsstelle für interkulturelle Studien), Köln

Informationen über die Forschungsstelle für interkulturelle Studien finden sich im Internet unter: www.fist.uni-koeln.de