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Archiv-Artikel

Die saubere Statistik-Fraktion

VON WLADIMIR KAMINER

Die Menschen in Deutschland sind deutlich politischer engagiert als die in meiner Heimat. Trotzdem führen die meisten hier ein Doppelleben zwischen dem Staat und der Gesellschaft. Offiziell sind sie temperamentvolle Staatsbürger und reden von sich gern in der dritten Person (Deutschland braucht dies, Deutschland braucht das), inoffiziell aber regeln sie ihre Angelegenheiten als Teil einer Interessengemeinschaft, die nichts mit dem Staat zu tun hat.

In Russland regieren zurzeit Offiziere, sie wollen die Bevölkerung in Reihe und Glied aufstellen, damit endlich Ruhe im Karton ist. Deutschland wird vom Zivilbeamtentum regiert, das nichts anderes im Sinn hat, als Geld zu sammeln und umzuverteilen. Beide, sehr unterschiedliche Staaten, neigen dazu, für komplexe Probleme einfache Lösungen anzubieten, die sie aus ihrem Weltverständnis heraus produzieren. Die einen wollen alles mit Gewalt regeln, die anderen mit der Kohle. Um einen Wirtschaftsaufschwung zu initiieren und die Staatskassen zu füllen, schicken die russischen Offiziere, auch als Menschenrechtsverletzer bekannt, die Wirtschaftsbosse in den Knast. Die deutschen Beamten – des früheren Sozialstaats – legen Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammen und nennen Arbeitsämter in Jobbörsen um.

In beiden Fällen liegen die Interessen des Staates und der Gesellschaft weit auseinander. In Russland reden die Politiker gern von kriminellen Oligarchen, hier von unwilligen Arbeitslosen, die dem Staat die Kohle klauen, um sich in Miami zu sonnen. So findet jeder einen Feind nach seinem Format. Schuld an allem ist außerdem – hier wie dort – die so genannte Wirtschaftskrise, sagen die Politiker. Hier in Berlin hat man von dem Aufschwung davor rein nichts bemerkt, also dachten wir, kann uns auch die Krise nichts anhaben. Wir haben uns geirrt. Im Zeichen dieser Krise bildete der Staat die „saubere Statistik-Fraktion“ und ging damit wie eine verrückte Kuh auf die Menschen los, unter anderem mit der Agenda 2010.

Während also in Russland menschenrechtsverletzend die Staatskasse durch die geschassten Wirtschaftsbosse aufgebessert wird, macht es Deutschland sozialdemokratisch auf Kosten der Arbeitslosen. Plötzlich bekommen alle fast gleichzeitig das gleiche Jobangebot: auf einer Müllverbrennungsanlage in einem anderen Bundesland zu arbeiten. Sie lehnen höflich ab. Die einzige Alternative wäre dann, eine Ich-AG zu gründen und dem Amt damit für immer den Rücken zu kehren. So werden die Leute sauber aus der Statistik gemobbt. Von dem ersparten Geld werden Plakate gedruckt, auf denen Kerner und Beckmann sich gegenseitig die Hände schüttelnd für noch „mehr Arbeitsplätze in Deutschland“ werben. In Zukunft wird aber eher der Konflikt zwischen dem Staat und den Bürgern noch größer. Was tun? Nach intelligenten Lösungen suchen, jenseits von Geld und Gewalt, denn die wirklichen „Reformen“, die kommen, werden jede Agenda sprengen und alle Seiten überfordern.

Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, lebt seit 1990 als Schriftsteller, Moderator und DJ (Russendisko) in Berlin