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Archiv-Artikel

„Ich bin nicht pessimistisch“

INTERVIEW ERIC CHAUVISTRÉ

taz: Professor Chomsky, Sie gehören zu den profiliertesten Kritikern der US-Außenpolitik. Wieso haben Sie neulich die Vereinigten Staaten dennoch als das „beste Land der Welt“ bezeichnet?

Noam Chomsky: Es ist unmöglich, eine Rangfolge von Ländern aufzustellen. Dazu gibt es viel zu viele Dimensionen und Verflechtungen. Aber in mancher Hinsicht stehen die USA sehr weit oben – dank der über Jahrhunderte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erkämpften Erfolge. Am deutlichsten ist dies vielleicht bei der Redefreiheit. Hier sind die USA meines Wissens einzigartig. Andere außergewöhnliche Merkmale der USA sind zum Beispiel der Mangel an Ehrerbietung gegenüber Autoritäten und der unkomplizierte persönliche Umgang ohne Beachtung von Klassenschranken.

Auf dem Umschlag der amerikanischen Originalausgabe Ihres neuen Buches ist es wieder zu lesen: Für die „New York Times“ sind Sie „der wohl wichtigste lebende Intellektuelle“. Warum haben dann ausgerechnet Sie so ein Problem mit den Intellektuellen?

Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen waren seit Beginn der Geschichtsschreibung die Intellektuellen, die respektiert, gepriesen, geehrt und zu ihrer Zeit bevorzugt behandelt wurden, jene, die dem Staat dienten. Diejenigen, die sich der Macht vollständig unterwarfen, wurden am meisten respektiert. Es gab immer Dissidenten an den Rändern der Gesellschaft. Aber wie wurden sie behandelt? Meistens wurden sie bestraft.

Kann man sich nicht auch in die Nähe der Macht begeben, weil man aktiv werden, sich einmischen will?

Machen wir uns da nichts vor. Es ist die Sehnsucht nach Privilegien und Macht. Machtvolle Systeme werden nicht Privilegien und Respekt an diejenigen geben, die das System untergraben. Dies geht weit zurück in der Geschichte, bis hin zur Bibel. Wer wird dort geehrt? Die Schmeichler am Hofe, also diejenigen, die Jahrhunderte später falsche Propheten genannt wurden. Sehen Sie sich dagegen diejenigen an, die Jahrhunderte später als Propheten geehrt wurden. Wurde sie zu ihrer Zeit freundlich behandelt? Nein, sie wurden ins Gefängnis gesteckt oder in die Wüste getrieben. Einige Jahrhunderte später wurden sie respektiert, aber nicht zu ihrer Zeit.

Eine Lieblingsbeschäftigung westlicher Intellektuellen ist es derzeit, darüber zu diskutieren, ob die USA ein Imperium sind. Würden Sie es so nennen?

Es ist mir gleichgültig, ob man das Imperium nennt oder nicht. Das ist ein sinnloser Streit, der Begriff bedeutet nicht viel. Die USA verhält sich wie ein Machtsystem, das andere dominiert – mit allen Mitteln. Sie hat Mechanismen, um Dominanz zu etablieren, und sie versucht sie zu nutzen. Es sind selbstverständlich nicht „die USA“, es sind die Kräfte, die die USA regieren. Sie wollen auch ihr eigenes Land dominieren, in der selben Art und Weise. Der Hauptfeind fast jeder herrschenden Gruppe ist seine eigene Bevölkerung. Die Regierung muss den Irak kontrollieren. Aber viel wichtiger ist es noch, die Amerikaner zu kontrollieren. Und das ist nicht einfach. Während die Leute ihre Aufmerksamkeit auf Bushs Nationale Sicherheitsstrategie richten, wird versucht, die Erfolge der fortschrittlichen Kämpfe des letzten Jahrhunderts zu zerstören. Das Land soll in ein System verwandelt werden, das beherrscht wird von Superreichen. Es hat schon eine dramatische Erosion der demokratischen Kultur gegeben.

Wie möchten Sie diese Erosion aufhalten?

Es beginnt mit kleinen Reformen wie die der Wahlkampffinanzierung, so dass man nicht eine Wahl abhält, die einen Witz aus dem ganzen System macht. Es reicht hin bis zu solchen Reformen, die an den Kern des Problems berühren: Was im Westen Kapitalismus genannt wird, hat sehr wenig Ähnlichkeit mit Kapitalismus im traditionellen Sinne. Es ist ein System von unternehmerischem Merkantilismus. Ein Unternehmen ist ein totalitäres System, eine Kommandowirtschaft. Die Kommandosysteme sind riesig, untereinander und mit mächtigen Staaten verbunden. Verbindungen die dazu da sind, Wettbewerb zu vermeiden.

Mehr freier Handel soll mehr Wettbewerb bringen.

Was Handel genannt wird, ist zum größten Teil eine Farce. Nehmen sie das, was Handel zwischen der USA und Mexiko genannt wird. Eines der großen Vorteile der nordamerikanischen Freihandelszone Nafta soll sein, dass sie den Handel zwischen den USA und Mexiko vergrößert. Hat sie das wirklich? Nicht in dem Sinne, wie Adam Smith Handel verstand. Ausgeweitet wurden Transfers innerhalb von Unternehmen: Wenn man Produktteile von Pennsylvania nach Illinois bewegt, um sie dort zusammenzusetzen und anschließend in Kalifornien zu verkaufen, ist das kein Handel. Aber wenn es über die mexikanische Grenze geht, wird es Handel genannt. Die ideologische Korruption der Ökonomen macht das möglich. Dabei ist dieser Handel nichts anderes als das, was der Kreml machte, wenn er Teile von Russland in die Ukraine und dann nach Polen hat bewegen lassen. Das war auch kein Handel.

Wieso konzentrieren Sie sich bei Ihrer politischen Analyse so auf die neoliberale Agenda?

Die Hauptfunktion der neoliberalen Programme ist es, die Demokratie einzuschränken. Die neoliberalen Programme begannen in den 70er-Jahren mit der Deregulierung der Finanzmärkte. Dabei ist es seit hundert Jahren bekannt, dass finanzielle Deregulierung ein Angriff auf die Demokratie ist. Wenn man freie Finanzströme hat, entsteht ein – wie es Ökonomen zuweilen nennen – virtuelles Parlament von Investoren und Gläubigern, die ein permanentes Referendum über die Regierungspolitik abhalten. Und wenn sie die Regierungspolitik nicht mögen, zerstören sie die Wirtschaft des Landes, mit Kapitalflucht und mit Attacken gegen die Währung. Nehmen wir die Privatisierung. Gibt es irgendwelche ökonomischen Belege dafür, dass privatisierte Betriebe effizienter sind? Nein, gibt es nicht. Wozu Privatisierung aber führt, und das ist ihre Hauptfunktion, ist die Eingrenzung des öffentlichen Raumes. Wenn man etwas privatisiert, ist es in der Hand totalitärer Kommandowirtschaften, die der Öffentlichkeit gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sind. Auch beim Gats – dem General Agreement on Trade in Services – ist es das Hauptziel, die Demokratie nahezu vollständig abzuschaffen. „Dienstleistungen“ bedeutet alles, womit ein menschliches Wesen zu tun haben kann: Gesundheit, Bildung, Wasser etc. Dies gibt man in die Hände nicht rechenschaftspflichtiger privater Tyranneien.Was soll die Regierung dann noch tun? Was ist dann noch der Sinn, eine Regierung zu haben?

Ihr Name steht für eine der letzten umfassenden Theorien des 20. Jahrhunderts: der universalen Grammatik in der Linguistik. Als politischer Autor machen sie keine Hehl aus ihrer Abneigung gegen Theorien. Wie geht das zusammen?

Ich habe nichts gegen Theorien. Wenn es welche gäbe, wäre ich froh. Aber abgesehen von sehr begrenzten Gebieten, gibt es kein tiefgründiges Verstehen. Selbst der Großteil der Naturwissenschaften ist deskriptiv. Und wenn man sich mit menschlichem Verhalten beschäftigt, wird nichts verstanden. Es ist zu kompliziert! Man kann es mit einer schwerfälligen Stimme beschreiben, um wichtiger zu klingen. Aber wenn man auf die Dinge schaut, die sich Theorie nennen, erkennt man, dass es dort keine Prinzipien gibt. Sie stellen schlicht komplizierte Wege dar, um etwas zu sagen, was man auch in einfachen Worten sagen und damit für die Leute verständlich machen kann. Aber das lässt einen nicht so profund erscheinen, bringt einem nicht die Privilegien und das Prestige.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Arbeit des Linguisten Chomsky und der des politischen Aktivisten?

Im Wesentlichen gibt es keine Verbindung. Es gibt sie auf einer abstrakten Ebene, was einige intellektuelle Signifikanz haben mag, aber keine praktische Konsequenzen.

In Ihren politischen Texten vermitteln sie keine politische Vision. Sie scheinen eher pessimistisch.

Ich bin nicht pessimistisch. Warum haben wir keine Sklaverei mehr, warum haben wir Rechte für Frauen, warum haben wir Parlamente? Waren dies Geschenke von Königen und Bischöfen? Nein, all dies ist das Ergebnis ausdauernder, harter Auseinandersetzungen, von Widerstand, Ungehorsam, der Verweigerung von Befehlen – und der Aneignung von Institutionen.

Sie sind jetzt 75 Jahre alt, könnten sich zur Ruhe setzen. Was motiviert Sie dazu, politisch aktiv zu bleiben?

Die Bewegungen für mehr Gerechtigkeit sind heute größer, als sie es lange Zeit waren. Wenn die Leute von all dem wüssten, was passiert, würden sie es nicht akzeptieren.