Die Lüge des Ostentativen

Gestern um 12 Uhr wurde in Europa offiziell der Opfer des Terrors von Madrid gedacht. Eine Geste. Tatsächlich lässt sich Mitgefühl weder einfordern noch beliebig ins Kollektive transponieren

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Rasend schnell haben sich überraschende Erkenntnisse Bahn gebrochen: Seit Neuestem wissen wir zum Beispiel: „Wir sind alle Spanier“. Und Erinnerungen kehren wieder. Der 11. September 2001 brachte uns zur „uneingeschränkten Solidarität“ – deren politische Einschränkung in der Folge schnell sichtbar wurde.

In Krisensituationen ergibt sich stets der Effekt des Zusammenrückens. Die Getroffenen vereinen sich im Schmerz und die sekundär Betroffenen üben sich in kollektiven Mitleidsbekundungen. Timothy Garton Ash wirft im Blick auf die Madrider Attentate die richtige Frage auf, ob „wir übrigen Europäer“ denn wirklich das Gefühl hätten, „getroffen“ zu sein.

Erstaunlicherweise drückt er sich vor der Antwort und gibt lediglich seiner Überzeugung Ausdruck, dass sich durch das Madrider Attentat die europäische Solidarität festigen werde. „In einem Moment wie diesem kommt es in erster Linie darauf an, Solidarität nicht im Denken, sondern im Empfinden zu zeigen.“ Gefordert ist also eine Kultur des Mitgefühls: wenn man so will eine politische „Logik des Herzens“, an die sich die Erwartung eines künftigen Wir-Gefühls knüpft. An diesem Punkt muss man aufpassen, um die Madrider Ereignisse nicht als Anlass einer gesamteuropäischen Mitgefühlsinszenierung zu missbrauchen. Krisenzeiten sind immer auch Zeiten der großen Gesten. Sie zeigen unsere Hilflosigkeit, unsere Ohnmacht. Die dann gerne mit machtvollen Symboliken kompensiert werden: „Zeichen setzen“ heißt das in der Sprache der Politiker.

Ein solches Zeichen soll die europaweit verhängte Schweigeminute sein, die Inszenierung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit, von dem zu fragen bleibt, ob es wirklich existiert, und wenn, worauf es beruht. So begrüßenswert es sein mag, dem hilflosen Reden („mit Abscheu und Empörung …“) die Ruhe des Schweigens entgegenzusetzen: die Inszenierung selbst trägt in sich die Lüge des Ostentativen. Mitgefühl lässt sich – wie alle großen emotionalen und affektiven Manifestationen – weder einfordern noch beliebig ins Kollektive transponieren. Es entsteht, wenn es gelingt, sich in einen anderen als Leidenden zu versetzen – keine leichte Übung, denn es verlangt, eigene schmerzvolle Erfahrungen zu aktivieren: das aber versucht jede Psyche zu vermeiden. „Das Mitgefühl ist die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen“, sagt der Psychoanalytiker Arno Gruen zutreffend – und fährt ebenso treffend fort: „Mit seiner Unterdrückung ist die Geschichte der Zivilisation nicht nur verflochten, sie ist ihr Fundament.“ Im Mitgefühl äußert sich, jenseits des natürlichen Egoismus, die genuine Angewiesenheit der Menschen auf Gemeinschaft.

Nicht umsonst hat Max Scheler in den „Formen der Sympathie“ die anthropologische Grundlage des Zusammenlebens gesehen: mit der Erkenntnis, dass gefühlsgebundene Gemeinschaften in aller Regel zahlenmäßig klein sind. Wie fragil diese „Gemeinschaftsbindung“ der Species Mensch ist, haben schlagend die Gesellschaften bewiesen, die ihre sozialpsychologische Binnenregulierung auf einen Kultus der Gemeinschaft stellten. Künstlich forcierte Gemeinschaften dieses Typs bilden sich in aller Regel um das zentrale Mythologem des Opfers: Opfergemeinschaften enthalten jedoch stets den Kern der paranoiden Abgrenzung und der Legitimation künftiger Rache. Mit anderen Worten: Zur inneren Logik solcher Gemeinschaftsbildung zählt die Pervertierung des Mitgefühls in Selbstmitleid.

„Wir sind alle Spanier“: Alle Opfer? An wen dachten wir, als wir gestern um 12 Uhr für eine Minute die tägliche Routine suspendierten? Seien wir doch ehrlich: Das verhängte Schweigen führt im Allgemeinen lediglich dazu, die Gedanken ins Leere laufen zu lassen. Die Geste ist psychologisch fragwürdig. Denn wem gilt das „Zeichen“? Der Sinn liegt allein in der Beschwörung von Kollektivität und der Demonstration einer Gemeinschaftssubstanz gegen ein Außen. Anders gesagt: Gegen wen vereinigen wir uns, wenn wir das Ritual zelebrieren? Ash hat in seinem Kommentar eine interessante Differenzierung anklingen lassen: Selbstverständlich würden wir Mitgefühl und Solidarität auch mit Terroropfern in Lateinamerika oder Afrika empfinden: „aus Menschlichkeit“. Jedoch: „Als Europäer empfinden wir diese Solidarität aber umso stärker, als es eine europäische Stadt war, die getroffen wurde.“ Schwierig, wenn die ersten sichtbaren Zeichen einer „europäischen Identität“ im unausgesprochenen Gegensatz zur Menschlichkeit stehen.