: Verstand einschalten
Wir stehen fassungslos vor dem Grauen in Madrid. Betroffen sind Menschen, die uns nahe stehen in einer Stadt, die zu uns gehört: Madrid, gleich um die Ecke, am Abend zuvor nichts weiter als fröhlicher Sitz der Fußballgötter, Ausgangsort für Urlaube, Erasmusziel. […]
Stefan Reineckes Kommentar ist ein Musterbeispiel für das Erkennen von Zusammenhängen und dafür, dass man sich angesichts des Grauens letztlich doch von diesen Erkenntnissen entfernt. Er beschreibt zunächst, dass die ETA von ihrem Standpunkt aus rational gehandelt hat: Eine Organisation, die kurz vor dem Untergang steht, muss einen Beweis ihrer Schlagkraft liefern, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Gleichzeitig festigt sie so die Position ihres äußeren Feindes, um ihre Daseinsgrundlage zu erhalten. Gleich darauf wirft Herr Reinecke sämtliche Ergebnisse seines Nachdenkens über Bord und gibt sich völlig den Gedanken an das Unfassbare hin.
Obwohl es unfassbar ist, wie jemand kalkulieren kann wie die ETA (oder wer auch immer es war): Es ist durchaus wahrscheinlich anzunehmen, dass die Planer und Durchführer der Terroranschläge ihrer eigenen Logik folgen. Schätzen wir sie – verständlich im ersten Schock – als Irre ein, ist diese Einschätzung die Basis für weit irrationalere Folgeaktionen von unserer Seite. Genannt seien massive Einschränkungen von Menschen- und Bürgerrechten und Kriege. Dabei ist längst klar, dass es nichts nützt, Terroristen einzig und allein durch Sicherheits- und Gewaltmaßnahmen einzudämmen.
Wir müssen uns schützen, natürlich, aber vor allem müssen wir ihnen mit unseren eigenen rationalen Mitteln beikommen. Wir müssen den Kampf gegen die weltweite Armut und Ungerechtigkeit erweitern, globale Zusammenhänge versuchen zu begreifen, Gewalt kollektiv verurteilen und im Kleinen an unserer eigenen Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Auffassungen arbeiten. Um so handeln zu können, müssen wir uns zwingen, Terrorgruppen wie die ETA in unseren Köpfen zu entmystifizieren. Wer wie Stefan Reinecke dies erkannt hat, darf sich nicht von Fantasien von Irrationalität auf der anderen Seite hinreißen lassen. Letztlich zieht er sich so aus der Verantwortung, zu handeln. Und zu handeln ist angesichts der grauenhaften Gewalt dringend notwendig.
VERENA SCHÖNLEBER, Konstanz