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Archiv-Artikel

Kein Auge trocken und lautes Weinen

Mit der Aufführung aller Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens erlebt Bremen die Präsenz eines gewaltigen Kosmos. Sie stellen eine einzigartige Auseinandersetzung mit Mozart und Haydn da. Der Meister selbst pflegte von fast leeren Notenblättern zu spielen und gewaltige Wirkungen zu erzielen

Der Ertaubende spielte das „wunderbarste, eigentümlichste und schwierigste“ Konzert

Obschon die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven zum Standard eines jeden Pianisten gehören, ist es doch relativ selten, dass Pianisten sich den gewaltigen Kosmos als Zyklus vornehmen: Vor zwanzig Jahren war es Alfred Brendel in New York, jetzt der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard. Nun war es auch die Idee des Bremer Pianisten Nikolaus Lahusen, die Philharmonischen Doppelkonzerte einmal anders zu nutzen: „Man kann dann Gattungen oder Komponisten viel komplexer vorstellen“. Und so werden kommenden Montag und Dienstag unter der Leitung von Michael Swierczewski alle fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven erklingen.

Eingeladen wurde die Crème der jungen PianistInnen, einige davon sind den BremerInnen auch aus dem inzwischen äußerst renommierten Bremer Klavierwettbewerb bekannt. „Wir hätten auch einen Star für alles nehmen können, aber genau das wollten wir vermeiden. So können wir den unglaublich verschiedenen Konzerten mit unterschiedlichen Pianistencharakteren eine jeweils besondere Aura geben“, sagt Lahusen.

„Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen“: diese berühmt gewordene Empfehlung des Grafen von Waldstein hatte der 21-jährige Beethoven in der Tasche, als er 1792 Bonn verließ und nach Wien zog, eigentlich, um Mozarts Schüler zu werden – doch der war schon 1791 gestorben. Beethoven schrieb später fünf Klavierkonzerte, die eine einzigartige Auseinandersetzung mit dem Erbe Mozarts und Joseph Haydns sind.

Die Umstände der Uraufführung des „titanischen“ dritten Konzertes, das endgültig Schluss macht mit dem bis dahin in der Gattung eher üblichen unterhaltenden Konversationston, sind aufschlussreich für die damalige Praxis des Konzertlebens und heute nicht mehr vorstellbar. Aufgeführt wurde es 1803 zusammen mit der ersten und der fünften Sinfonie und dem Oratorium „Christus am Ölberg“. Morgens um fünf schrieb Beethoven noch schnell den Posaunenpart für das Oratorium, dann wurde den ganzen Tag die (einzige) Probe abgehalten: Um 18 Uhr begann das Konzert. Beethoven, der im Klavierkonzert den Solopart, wie sonst auch, spielte, hatte nur die Prinzipalstimme notiert.

Der umblätternde Ignaz von Seyfried berichtet: „Ich erblickte fast lauter leere Blätter; höchstens auf einer oder der anderen Seite ein paar, nur zum erinnernden Leitfaden dienende, mir rein unverstendliche, egyptische Hieroglyphen hingekritzelt; denn er spielte beinahe die ganze Prinzipalstimme bloß aus dem Gedächtnis, da ihm, wie fast ungewöhnlich der Fall eintrat, die Zeit zu kurz war, solche vollständig zu Papier zu bringen. So gab er mir jedes Mal also nur einen verstohlenen Wink, wenn er mit einer dergleichen unsichtbaren Passage am Ende war, und meine kaum zu bergende Ängstlichkeit, diesen entscheidenen Moment ja nicht zu versäumen, machte ihm einen ganz köstlichen Spaß, worüber er sich noch bei unserem gemeinsamen jovialen Abendbrote vor Lachen ausschütten wollte.“

Die Einheit von einer sanft-eindringlichen Lyrik und einer glitzernden, aber trotzdem gleichsam intimen Virtuosität kennzeichnet das vierte Konzert in lichtem G-Dur, das so überraschend mit dem Solisten beginnt (1806). Es war das letzte, das der ertaubende Beethoven selbst öffentlich spielte und das in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung von 1806 liebevoll als das „wunderbarste, eigentümlichste, künstlichste und schwierigste von allen“ bezeichnet wurde. Das fünfte und letzte Konzert in Es-Dur (1809) birst geradezu vor Klangfülle und Komplexität, führt vom ehemals Dialogischen zwischen Klavier und Orchester zum gemeinsam Sinfonischen.

Diesen Weg hat Beethoven nicht weiter verfolgt. „Es ist ja seltsam und schade, dass Beethoven in seinem alles sprengenden Spätwerk sich mit dieser Gattung nicht mehr auseinandergesetzt hat“, sagt Lahusen. Von Beethovens Schüler Carl Czerny gibt es eine interessante Erinnerung an das Klavierspiel Beethovens: „... er verstand es, einen solchen Eindruck auf jeden Hörer hervorzubringen, dass häufig keine Auge trocken blieb, während manche in lautes Weinen ausbrachen“.

Mit den vielfach preisgekrönten jungen PianistInnen Filippo Gamba, Ragna Schirmer, Markus Groh, Aleksandar Madzar und Nikolaus Lahusen (in der Reihenfolge der Konzerte) ist 2003 kein Weinen angesagt, aber eine vergleichbare Wirkung sicher.

Ute Schalz-Laurenze

Abbildung: Historisches Hörgerät, zweiteilig, Messing. Medizin-hist. Sammlung Dr. Hirtz, Püttlingen