: „Rückzug führt zu neuer Gewalt“
INTERVIEW ANDREAS SPANNBAUER
taz: Herr Thamm, der Bombenanschlag in Madrid hat die Wahl in Spanien entschieden. War das bewusstes Kalkül der Al-Qaida-Terroristen?
Berndt-Georg Thamm: Es soll Überlegungen von Islamisten gegeben haben, dass ein Anschlag in Spanien zu einem Regierungswechsel und damit auch zu einer anderen Irakpolitik Spaniens führen würde. Wenn das stimmt, dann hieße das, dass der Dschihad-Terrorismus heute willens und in der Lage ist, politische Entscheidungen herbeizubomben.
Mit anderen Worten: Ein Rückzug aus dem Irak, wie ihn die neue spanische Regierung im Wahlkampf versprochen hat, wäre also ein Triumph des Terrorismus?
Wenn die spanische Regierung tatsächlich Soldaten aus dem Irak abziehen sollte, dann werden die Dschihad-Terroristen das ganz bestimmt als Sieg auf der ganzen Linie feiern. Das wird andere ermutigen, durch sehr blutige Anschläge auch andere politische Entscheidungen zu beeinflussen. Etwa den Abzug von Isaf-Soldaten aus Afghanistan.
Handelt al-Qaida überhaupt zweckrational? Selbst wenn man eine Appeasement-Politik für richtig hielte – worüber sollte man mit al-Qaida verhandeln?
Der harte Kern der Dschihad-Terroristen will im Krieg gegen die Ungläubigen den muslimischen Gottesstaat auf Erden errichten. Dieses Ziel steht so fest, dass sich jede Diskussion erübrigt. Der harte Kern ist zu keinem Dialog bereit – und kein Ansprechpartner für Deals jeder Art. Die ziehen ihre Sache durch, ohne Wenn und Aber.
Hat Sie der Anschlag von Madrid überrascht?
Im Prinzip nicht. Ich habe schon vor zweieinhalb Jahren davor gewarnt, dass Gotteskrieger den Terror nach Europa tragen. Wenn man sich anschaut, wie viele Anschläge hier vereitelt werden konnten, haben wir bis letzte Woche lediglich Glück gehabt.
Wie hat sich die Schlagkraft von al-Qaida in den letzten Jahren verändert?
Die Schlagkraft von al-Qaida hat sich dramatisch verändert. Die ursprüngliche al-Qaida war vom Selbstbild her eine hierarchische Militärorganisation mit mehreren tausend Dschihad-Soldaten. Von Mitte der Neunzigerjahre bis 2001 haben dann zigtausende von Dschihad-Rekruten aus zwei bis drei Dutzend islamischen Ländern Camps in Afghanistan durchlaufen. Die Saat, die Ussama Bin Laden in dieser Zeit gesät hat, ist jetzt aufgegangen.
Welche Rolle spielt das ursprüngliche Netzwerk von Bin Laden noch?
Die eigentliche Organisation von Bin Laden ist durch die US-Operation „Enduring Freedom“ am Hindukusch stark angeschlagen worden. Was davon übrig ist, bewegt sich heute im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Das sind Ussama Bin Laden, sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri und einige Getreue – insgesamt vielleicht noch 300 Kämpfer. Aber was uns heute als terroristisches Gegenüber bedroht, ist ein Netzwerk, in dem etwa 30 islamistische Gruppen sehr, sehr lose miteinander verbunden sind. Diese zeichnen sich nicht durch eine intakte Befehlskette aus, sondern durch eine völlige Autonomie. Sie entscheiden selbst vor Ort, wen sie wie attackieren.
Wie groß ist dieses Potenzial?
Wir haben es mit einem Kämpferpotenzial von etwa 20.000 so genannten Aligned Mudschaheddin, also in Gruppen gebundenen Gotteskriegern, zu tun. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl junger Muslime, die sich am Hindukusch haben ausbilden lassen, aber keiner Gruppe angehören. Sie stellen in Europa meiner Ansicht nach die größte Bedrohung dar.
Weshalb?
Das sind Leute, die sich ganz spontan zusammenschließen. Sie geben sich einen Namen, den vorher keiner gekannt hat. Diese spontanen Bündnisse führen terroristische Operationen nach uralter Beduinentaktik aus, wie sie sich auf der arabischen Halbinsel bereits in vorislamischer Zeit bewährt haben. Nach der Operation löst sich die Gruppe wieder auf. Diese Bündnisse lassen sich nur sehr schwer bekämpfen.
Hat sich in Madrid eine neue Qualität des Terrors gezeigt?
Die neue Qualität besteht lediglich darin, dass al-Qaida bisher vom Gedanken des Dschihad geprägt war. Dazu gehörte, dass zum Opfer bereite Kämpfer, also Selbstmordattentäter, an der Front standen. Diesen Märtyrergedanken sehe ich bei der Aktion in Madrid noch nicht. Die Tatsache, dass es sich um einen Anschlag auf rein zivile Ziele ohne jede Symbolkraft handelt, ist nicht neu. Das ist ganz im Sinn von al-Qaida.
Gerade diese scheinbare Beliebigkeit der Opfer ist erschreckend.
Das ist eine Strategie, die im Militärhandbuch von al-Qaida nachzulesen ist. Einige zivile Ziele werden darin sogar genau spezifiziert, etwa ausländische Touristen. Al-Qaida geht – vielleicht zu Recht – davon aus, dass dies die größte Angst in der westlichen Welt verbreitet.
Die Videobotschaft der Attentäter von Madrid lautete: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“
Das ist der Dschihad-Gedanke. Das Ziel der Dschihad-Terroristen ist die Errichtung eines globalen muslimischen Gottesstaates mit dem Schwert in der Hand. Wer in diesem heiligen Krieg stirbt, wird zum Märtyrer und hat Anrecht auf den direkten Einzug in das Paradies. Jeder, der dieses Ziel nicht mitträgt, wird zum Feind des Islam erklärt. Dazu zählen sowohl Christen und Juden, aber auch moderate Muslime, die aus Sicht der Dschihad-Terroristen schlicht und einfach Verräter darstellen. Auch Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit stellen keinen Schutz vor den Attacken der Dschihad-Terroristen dar.
Also sind auch Muslime nicht vor Anschlägen sicher?
Nein. Es geht gerade nicht um einen Krieg der Kulturen. Wir haben eine global agierende Kampfgruppe, die möglicherweise in der gesamten muslimischen Welt eine Unterstützerszene von einigen hunderttausend hat. Der gegenüber stehen eine Milliarde Muslime, die mit Terrorismus nichts zu tun haben wollen und die von den Dschihad-Terroristen selbst zum Feind erklärt werden. Die tragischen Anschläge etwa in der Türkei zeigen: Auch Muslime dürfen sich vor Attacken der Dschihad-Terroristen nicht sicher fühlen. Es wird auch weiterhin islamische Länder treffen.
Woher kommt die Bereitschaft, solche grausamen Anschläge zu begehen?
Es geht darum, welche Erfahrungen jemand gemacht hat. Hier hat der Westen einen großen Fehler gemacht. Die Konfrontation mit dem Dschihad-Terrorismus ist das Erbe des Afghanistankrieges. Alle Spuren führen entweder direkt oder über viele Umwege an den Hindukusch. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 war für den Westen ein Krieg von Freiheitskämpfern gegen kommunistische Besatzer. Für die muslimische Welt war es eine Angriff von Ungläubigen auf ein Gebiet des Islam. Vor diesem Hintergrund haben neben den Afghanen 35.000 oder mehr Freiwillige aus über 40 islamischen Ländern gegen die Rote Armee gekämpft. Dieser Krieg hat über 30.000 gelernte Dschihadisten hinterlassen, die von den Erfahrungen des Krieges geprägt in ihre Heimat zurückgingen.
Wie kann diese Bedrohung wirksam bekämpft werden?
Diese Bekämpfung kann nicht nationalstaatlich, sondern nur von der Völkergemeinschaft geschultert werden. Die Vereinten Nationen sind gefragt. In Europa muss die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden dringend verbessert werden. Der Anschlag von Madrid war ein Anschlag gegen Europa. Was gestern in Madrid geschehen ist, kann morgen in Großbritannien, Frankreich, Italien oder auch in Deutschland passieren. Besonders Informationen müssen bei den Sicherheitsbehörden gebündelt und vernetzt werden. Dieser Datenpool muss noch besser ausgewertet und schneller denen zugänglich gemacht werden, die dann tatsächlich für Schutzmaßnahmen zuständig sind.
Drohen nun weitere Anschläge?
Da will ich mir keine Prognose erlauben. Wir müssen mit weiteren Anschlägen rechnen. In welchem Abstand oder in welcher Region, weiß keiner.
Ist Deutschland wegen seiner Ablehnung des Irakkriegs weniger gefährdet?
Ich glaube nicht, dass nun die Bündnispartner des „großen Satans“ USA im Irakkrieg terroristisch abgearbeitet werden. So ist Deutschland in Afghanistan am Antiterrorkrieg beteiligt. Wir haben in Inland die Antiterrorprozesse. Es gibt eine Menge Gründe, weswegen Deutschland längst im Visier der Dschihad-Terroristen ist.
Wie groß ist die Gefahr von Attacken mit chemischen, biologischen oder atomaren Waffen?
Ein Restrisiko gibt es immer. Wenn man aber die bisherigen Anschläge analysiert, gab es nie einen Bezug zu solchen Kampfstoffen. Wir müssen in Europa vorrangig mit Sprengstoffanschlägen rechnen, weniger mit Attacken mit biologischen und chemischen Waffen.
Einer der Verdächtigen von Madrid wurde vom Geheimdienst beobachtet, ebenso ein Verdächtiger des 11. September. Versagen die Geheimdienste?
So kann man das nicht sagen. Beispiel Deutschland: Wir haben 3.000 Muslime, die extremen Organisationen zugerechnet werden. Darunter ist eine vorzeigbare Größenordnung, der härteste Gewalttaten zugetraut werden. Diese hunderte oder tausende Leute können nicht alle in Langzeitbewegungsbildern beobachtet werden. Die Manpower ist gar nicht da. Zudem ist es sehr schwer, den Verdächtigen eine konkrete Planung von Straftaten nachzuweisen.
Bayerns Innenminister Günther Beckstein will daher Ausländer schon auf Verdacht ausweisen.
Ich persönlich finde, wenn sich jemand ganz offen zum Dschihad bekennt, ein glühender Fan von Ussama Bin Laden ist und vielleicht sogar eine militärische Ausbildung in Afghanistan durchlaufen hat, dann darf man schon mit Fug und Recht die Frage stellen: Was will Monsieur hier eigentlich?
Würde ein Rückzug aus Afghanistan oder Irak die Gefahr von Anschlägen verringern?
Das glaube ich nicht. Der Dschihad-Gedanke, den diese Hardcore-Terroristen verfolgen, bleibt bestehen. Ein Rückzug würde schlicht und einfach als Sieg gefeiert werden. Das wäre nur ein neues Motiv für Gewalt. Diese Rechnung geht nicht auf.