Ein Jahr am Rand der Gesellschaft

Eva Kantůrková wurde in der Tschechoslowakei für ein Jahr inhaftiert, weil sie im Exil den berühmten Interviewband „Verbotene Bürger“ veröffentlichte. In einem beeindruckenden politischen „Wahrheitsroman“ hat sie ihre Erfahrungen im Gefängnis notiert

Bei der Durchsuchung eines französischen Wohnwagens fand die tschechoslowakische Grenzpolizei 1981 ein Exemplar von Eva Kantůrkovás im Exil erschienenem Interviewband „Verbotene Bürger“ über die Frauen der Charta 77. Das bot Anlass genug, die Autorin zu verhaften und eine Weile wegzusperren. Ein Jahr verbrachte Eva Kantůrková im Untersuchungsgefängnis. Doch das Buch, das sie nach der Entlassung über ihre Haftzeit schrieb, wurde zum bisher populärsten ihrer Werke, nachdem es in den Neunzigerjahren offiziell erscheinen konnte, und fand als Serie sogar seinen Weg ins tschechische Fernsehen.

Einen „Wahrheitsroman“ nennt Kantůrková die Form, die sie gewählt hat, um die Frauen, mit denen sie inhaftiert war, zu porträtieren. Sowohl im Genre (dokumentarische Literatur) als auch thematisch (Frauen) ist ihr Buch recht typisch für zwei nicht nur im Westen starke literarische Strömungen der Achtzigerjahre, ist etwa eng verwandt mit Maxie Wanders Frauenporträts aus der DDR, „Guten Morgen, du Schöne“. Doch während Wanders „Protokolle“ einem streng faktografischen, scheinbar objektiven Gestus unterworfen sind, gibt Kantůrkovás Wahrheitsroman sich literarischer, besitzt einen übergreifenden Spannungsbogen und betont das Subjektive der Erzählung. Das gibt „Freundinnen aus dem Haus der Traurigkeit“ eine Haltbarkeit, die das Buch weit über das Prädikat „anrührendes Zeitdokument“ hinaushebt. Denn gleichzeitig ist es ein Abenteuerroman über ein Jahr im Knast unter Verrückten und Unglücklichen, Kriminellen und Prostituierten: Frauen, die irgendwie am Rand der Gesellschaft gelandet sind und die Kantůrková in feinen psychologischen Porträts mitreißend lebendig schildert.

Bei aller Differenziertheit der Darstellung macht die Erzählerin unmissverständlich klar, wo ihre Sympathien und Antipathien liegen. Ihre emotionale Beteiligung überträgt sich auf den Leser und wirkt direkt ins Rückenmark, und man spürt einen regelrecht körperlichen Widerwillen gegen die Zellengenossin Helga, die so geschildert wird: „… sie thronte dort wie eine schwarze Königin, unbeweglich, versteinert, die Brust auf dem Bauch und den Bauch auf den Oberschenkeln hängend, […] einen Ellenbogen auf dem Bettgestell, den anderen auf der Tischkante. […] Nach vier Monaten hatte sie Hornhaut an den Ellenbogen.“

Wie eine Spinne in ihrem Netz: das perfekte Bild einer Denunziantin, die der Erzählerin noch zu schaffen machen wird. Liebevoll dagegen der Ton im Porträt der Roma Andy, die der Erzählerin rät, bei einem Straßenraub die Überfallenen zuerst mit dem Kopf auf den Boden zu schlagen, dabei jedoch eine warmherzige, liebenswerte Person von „reizender Zurückhaltung“ ist. Die junge Vera wiederum, die auf eine vergleichbare Laufbahn zurückblicken kann, ist von einer Abgebrühtheit, die sie für die intrigante Helga zum perfekten Instrument der Rache macht. – Auf Fragen nach der Verantwortung der Gesellschaft für diese verkorksten Lebensläufe verzichtet Kantůrková weitgehend, hält sich auch nicht damit auf, explizit einen Staat anzuprangern, der sie selbst als politische Gefangene ohne Verurteilung in Haft hält und Minderjährige behandelt wie gewöhnliche Strafgefangene.

Ihr Roman konzentriert sich völlig auf die Menschen, die laut realsozialistischer Staatsdoktrin eigentlich gar nicht hätten existieren dürfen, und gibt ihnen Gesicht, Stimme und Persönlichkeit. Jede dieser Frauen hat eine Geschichte, die erzählt werden sollte. Das ist die unerhörte Botschaft dieses Buches. Hätte es zu Zeiten der Diktatur erscheinen dürfen, wäre es eine Sensation gewesen. KATHARINA GRANZIN

Eva Kantůrková: „Freundinnen aus dem Haus der Traurigkeit“. Roman. Aus dem Tschechischen von Silke Klein. DVA, München 2003, 420 Seiten, 22,90 Euro