: Der lange Marsch durch die Wessi-Partei
Zehn Jahre nach der Fusion von Grünen und Bündnis 90 sind Politiker aus dem Osten an der Parteispitze gut vertreten. An den trüben Wahlergebnissen hat sich nichts geändert. Mehr Sinn fürs Soziale ist gefragt, findet Bürgerrechtler Schulz
LEIPZIG taz ■ Grüne Wahlsiege im Osten: Das klingt immer noch wie Frieden in Nordirland, Kommunismus in Bayern oder Olympia in Leipzig – einfach unvorstellbar. Oder doch nicht? „Eine Erfolgsgeschichte“ seien die zehn Jahre seit der Vereinigung von Bündnis 90 und den Grünen, schrieb die grüne Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke in der Einladung zum Jubiläumsfest. Ja, wenn man’s so sieht, darf man weiter träumen. So wie Parteichef Reinhard Bütikofer, der auf der ausgelassenen Party – offenbar angesteckt von der olympischen Euphorie am Veranstaltungsort Leipzig – von einem „zweistelligen Ergebnis“ in Sachsen sprach, das er sich „in zehn Jahren“ wünsche.
Positiv denken. Dazu sind die Bündnisgrünen im Osten wild entschlossen. Etwas anderes bleibt ihnen gar nicht übrig, die nackten Zahlen sehen trübe aus. 1,9 Prozent in Thüringen, 1,9 Prozent in Brandenburg, 2,6 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, 2,6 Prozent in Sachsen und 2,1 Prozent in Sachsen-Anhalt. Im gesamten Osten sind die Grünen, was sie vor zwanzig Jahren im Westen waren: außerparlamentarische Opposition. Da braucht man Humor, um nicht zu resignieren. In Anlehnung an Helmut Kohl verkünden die Grünen frohgemut, nun sei die „Zeit zum Aufblühen“ gekommen.
Die versammelte Parteiprominenz gab sich wirklich Mühe. Niemand soll glauben, man habe den Osten abgeschrieben. Ganz im Gegenteil. „In vielen Ländern steigen die Umfragezahlen“, frohlockte Verbraucherschutzministerin Renate Künast. Selbst im Unter-Zwei-Prozent-Land Brandenburg zeige „die Kurve nach oben“. Und Künast wusste auch, warum: „Ostdeutschland hat die Grünen noch nie so sehr gebraucht wie heute.“ Vielleicht muss man so etwas nur oft genug sagen, damit es irgendwann auch klappt.
Vorerst gelten die Grünen aber immer noch als Wessi-Partei, die den Osten ignoriert. Das ist ungerecht, wie Künast findet. Ob bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Gesundheitspolitik: „Wir haben gezeigt, dass wir vom Osten lernen.“ So seien die geplanten Gesundheitszentren doch „nichts anderes, als euch die Polikliniken abzuschauen“.
Und eines dürfe man den Grünen schon gleich gar nicht mehr vorwerfen: Dass sie keine ostdeutschen Politiker hochkommen lassen. „Überall in dieser Partei“ gebe es inzwischen Ostdeutsche in Führungspositionen, stellte Künast fest und zählte auf: Bundestags-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke, Haushaltsexpertin Antje Hermenau. Nicht zu vergessen die Chefin der Gauck-Behörde, Marianne Birthler. Die Frage nach angemessener Repräsentanz könne man getrost „zu den Akten legen“. Also alles paletti?
Kein Zweifel: Vor allem Hermenau und Göring-Eckardt haben sich seit der Bundestagswahl im Berliner Politikbetrieb einen Namen gemacht. Doch an den Bekanntheitsgrad der prominenten Ost-Politiker Wolfgang Thierse (SPD) und Angela Merkel (CDU) kommen sie noch lange nicht heran. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich ganz bewusst nicht als Vorzeige-Ossis gerieren. Göring-Eckardt und Hermenau fühlen sich als Vertreter einer neuen Generation, die gesamtdeutsch denkt, „unideologisch“ (Göring-Eckardt) und „pragmatisch“ (Hermenau).
Gerade im Osten seien „Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit am wichtigsten“, sagte Göring-Eckardt. Die Menschen seien von PDS und anderen Parteien zu oft enttäuscht worden, nun müsse man ihnen „ehrlich“ erklären, dass „noch mehr Reformen nötig“ seien als nur die Umsetzung der Agenda 2010.
Solche Ankündigungen sind es, die einen Vertreter der ersten Generation der Bündnisgrünen schaudern lassen. „Im Moment sind wir nur ein neoliberales Anhängsel der SPD“, schimpft Werner Schulz, der letzte bündnisgrüne Bürgerrechtler, der noch im Bundestag vertreten ist. Für ihn ist es „eine Existenzfrage im Osten, dass wir die Grundsicherung durchbekommen“.
Dafür werde er auf dem grünen Sonderparteitag im Juni „mit Leibeskräften kämpfen“. Die Grünen dürften das Thema soziale Gerechtigkeit „nicht der PDS überlassen“. Auch die Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung auf der Jubiläumsfeier war ihm sichtlich unbehaglich. „Wir brauchen ein Aufbau-Ost-Programm für die Partei“, fordert Schulz. „Der Bundesvorstand muss die Landesverbände noch stärker unterstützen.“ LUKAS WALLRAFF