„Die Tat von Madrid ist selbst die Botschaft“, sagt Reinhard Schulze

Dem islamistischen Terror ist mit Repression kaum beizukommen – die Ziele sind diffus, die Täter wenig organisiert

taz: Herr Schulze, welcher Logik folgte der Anschlag in Madrid?

Reinhard Schulze: Er hatte sicher keinen strategischen Sinn, aber einen hohen symbolischen Charakter. Er sollte die Gegner der islamischen Welt treffen.

Geht es um eine Art Strafe?

Die Aktion selbst hat kein bestimmtes Ziel. Wenn man von einem Zweck sprechen kann, dann liegt er in der Selbstbestätigung der Terroristen durch ihre Aktion. Sie bestätigen sich selbst damit in ihrer Identität als islamische Kämpfer. Mehr nicht.

Ist es ein Erfolg der Terroristen, dass Spanien nach dem Wahlsieg der Sozialisten seine Truppen aus dem Irak abzieht?

Das ist schwer zu sagen. Die Terroristen könnten nun zum ersten Mal das Gefühl haben, mit ihrer Aktion ein Ziel erreicht zu haben. Etwas, womit sie vielleicht gar nicht rechneten. Das ist eine bedenkliche Situation.

Dass die Spanier mehrheitlich gegen den Irakkrieg waren – spielte das keine Rolle?

Nein. In den Köpfen der Täter gibt es keine Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten. Für sie existiert nur die Trennung zwischen ihnen selbst, die eine Art „islamischen Willen“ in die Tat umsetzen, und allen anderen.

Dass unter den Opfern viele muslimische Einwanderer sind, war auch gleichgültig?

Ja. Für die Terroristen ist nur ein kämpfender Muslim ein wahrer Muslim – und ein nicht-kämpfender Muslim ein potenzieller Gegner. Damit warnen sie vor jeder Art von „Kollaboration“.

Was wollen die Terroristen? Geht es ihnen um die Errichtung eines Gottesstaats?

Ihr Kampf zielt nicht mehr auf den Umsturz innerhalb eines bestehenden Nationalstaats. Das unterscheidet sie von den islamistischen Gruppen der Siebziger- und Achtzigerjahre.

Was ist dann ihr Antrieb?

Diese neue „Dschihad“-Idee ist ein Deutungsangebot, das Lebenssinn gibt. Diesen Lebenssinn in die Tat umzusetzen, stellt für die Dschihadis die Krönung ihres Daseins dar. Das kann sich in so einer Aktion äußern.

Welche Botschaft hat die Tat?

Die Tat ist die Botschaft. Im Sinne von: Wir können es.

Gibt es ein typisches soziales Milieu, aus dem die Terroristen stammen?

Despektierlich gesagt sind es oft Halbgebildete. Leute, die die Volksschule besucht haben und später mit einer islamischen Wohlfahrtsorganisation in Verbindung gekommen sind und so ein islamistisches Milieu kennen gelernt haben – aber ohne den intellektuellen Background des Islamismus zu kennen. Es überrascht, dass solche „Halbgebildete“ nun mobilisierbar sind.

Wer mobilisiert die?

Leute, die von außen kommen und als Helden gelten. So wie Abu Dudschana al-Afghani, der Mann auf dem Bekennervideo: Der war in Afghanistan, hat für die islamische Sache gekämpft und konnte offenbar Leute mobilisieren, die bislang nicht auffällig gewesen sind.

Wie können wir uns dagegen schützen? Ist Videoüberwachung von Moscheen, wie die CDU meint, ein probates Mittel?

Nein. Die Kommunikationsgeflechte sind nicht in den Moscheen zu finden. Das sind oft private Beziehungsnetzwerke, die kaum kontrollierbar sind.

Sind Geheimdienste effektiver?

Schon eher. So wird man vielleicht hier und dort mal eine Zelle ausheben können. Aber die wirkliche Gefahr liegt in einem strukturellen Problem, das seit fast 30 Jahren existiert. Das sind die zerstörten Biografien in den Familien, zum Beispiel in manchen Migrantenfamilien. Es gibt immer mehr Jugendliche, die keine Karrierevorstellung, keine Lebenspläne, haben. Die haben keine Perspektive eine Familie zu gründen, schlicht weil sie kein Geld haben. Es gibt eine Menge solcher zerrütteten Biografien, die einen idealen Nährboden für radikale Deutungen abgeben.

Kann man dem mit ideologischer Auseinandersetzung beikommen?

Bestimmt nicht allein. Wer erst einmal in eine Sekte hinein geraten ist, der ist nicht mehr empfänglich für andere Diskurse. Man kann nur präventiv arbeiten: durch Sozialarbeit in den Migrantenmilieus und den Herkunftsländern und so die Familien identifizieren, in denen es solche Probleme gibt.

Das klingt nach einem Jahrhundertproblem.

Ja, das ist sehr schwierig. Da ist in den letzten Jahren viel versäumt worden.

Wir reden über eine Terrorsekte, die das Bild einer ganzen Religion prägt. Was haben diese Sekten mit dem Islam zu tun?

Der Islam selbst prädeterminiert in keiner Weise, dass in diesen zerrütteten Biografien solch radikale Deutungsmuster ab und zu auf fruchtbaren Boden fallen. Das kann auch in christlichen und jüdischen Kontexten geschehen. Es gibt 1,3 Milliarden Muslime, und darunter 5.000 bis 10.000 die solchen Ideen anhängen. Sie sind nicht repräsentativ, aber das Ausmaß ihrer Aktionen ist spektakulär und gewalttätig.

Viele Muslime ziehen sich damit aus der Verantwortung, dass sie sagen, der Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Ist das nicht zu wenig?

Ja. Aber die traditionellen muslimischen Eliten haben inzwischen – nicht nur in Saudi-Arabien – auch Angst davor, Teile ihrer Jugend zu verlieren. Dagegen gehen sie jetzt massiv vor. Die Imame werden heute aktiv aufgerufen, gegen Militanz im Namen der Religion Stellung zu beziehen. In Ratgebern à la „Wie halte ich eine gute Predigt“, die von islamischen Gelehrtenorganisationen herausgegeben werden, ist die Haltung: Gießt bloß kein Öl ins Feuer! Betont den integrativen Charakter des Islam!

Gibt es da einen Bewusstseinswandel?

Ja, es gibt zunehmend Selbstkritik: Wir haben dieses Problem ignoriert, wir waren zu selbstsicher und saturiert in unserem religiösen Diskurs und haben uns nicht darum gekümmert, was sozial abläuft.

INTERVIEW: DANIEL BAX