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Archiv-Artikel

Die Frauen holen sich ihr Recht

AUS BAGDAD INGA ROGG

Das Unglück von Amanj Yunes begann vor zwei Monaten. Für ein paar Tage hatte ihr zweijähriger Sohn ihren Exmann besucht. Doch anders als sonst brachte der das Kind diesmal nicht zurück. Vater und Sohn sind spurlos verschwunden. Ein klassischer Fall von Kindesentführung.

„Ich habe alles versucht, um den Konflikt auf gütlichem Wege zu lösen“, sagt Amanj Yunes. Wie in solchen Fällen im Irak üblich wurden Angehörige bei der Familie des Exmannes vorstellig, um eine Verhandlungslösung zu finden. Als das nicht fruchtete, ging die 33-Jährige zur Polizei. „Aber die nehmen mich gar nicht ernst“, sagt sie. Unglückliche haben keine Geduld. Sie glaubt, die Polizei würde den Verfall verschleppen.

Nun sind die Stadträte von Medina Sadr ihre letzte Hoffnung. Etwas verlassen sitzt Amanj Yunes in der Eingangshalle der Stadtverwaltung des schiitischen Armenviertels im Norden von Bagdad in einer Ecke. Sie hat sich für diesen Tag extra schick gemacht. Zu ihrem bodenlangen, mit Goldstickereien verzierten Umhang trägt sie ein beiges Kopftuch, über das sie locker ein zum Umhang passendes Tuch geschlungen hat. Wie Onyxe funkeln ihre großen dunklen, mit einem Kajalstift nachgezogenen Augen in dem blassen Gesicht. Fest hält Amanj eine abgegriffene rote Kladde in Händen. Darin sind die Scheidungsdokumente sowie der Beschluss über das Sorgerecht für die beiden Töchter und den Sohn.

Wie viele andere auch wandte sich das Ehepaar in der Scheidungssache zuerst an den schiitischen Geistlichen in ihrem Quartier, der die Scheidung schließlich billigte. Ein halbes Jahr später wurde die Ehe ganz offiziell auch vom örtlichen Familiengericht annulliert. In beiden Fällen sprachen die Richter das Sorgerecht für die Kinder der Chemikerin zu.

Geistliche Schiedsrichter

Der Vorgang ist im Zweistromland nicht ungewöhnlich. Landauf, landab werden Ehen von sunnitischen wie schiitischen Geistlichen geschlossen und auch wieder geschieden. Zu Zeiten Saddams war es besonders für Fahnenflüchtige oder Oppositionelle, die in den ländlichen Gebieten untergetaucht waren, oft die einzige Möglichkeit eine Familie zu gründen. An die Geistlichen wandten sich die Gläubigen aber häufig auch in Nachbarschafts- oder Dorfkonflikten.

Vor den Seminaren der angesehenen schiitischen Kleriker in Nadschaf, der Hauza, kann man auch heute wieder lange Reihen von Frauen sehen, manche mit einem Zettel in der Hand, auf denen ein schreibkundiges Familienmitglied das Anliegen notiert hat. Von Fragen der Moral bis zur Bitte um finanzielle Hilfe findet sich darunter alles, was eine Menschenseele bedrückt. Die Geistlichen sind Seelsorger, Ratgeber und Schiedsrichter.

In Familienangelegenheiten gilt im Irak das Personenstandsrecht von 1959. Es basiert auf den beiden großen, im Irak verbreiteten islamischen Rechtsschulen – der hanafitischen der Sunniten und der jaaferitischen der Schiiten. Die Eheschließung erfolgt nach sunnitischem Recht, während beim Erbrecht die für Frauen günstigere schiitische Schule gilt. Es macht Frauen nach dem Tod des Mannes zu Alleinerbinnen, während das Erbe bei den Sunniten an männliche Angehörige fällt und die Witwe nur einen Pflichtteil erhält.

Obwohl der Irak also auch vor dem Golfkrieg kein säkularer Staat war, erkannten einige Hardliner die Gunst der Stunde, kaum dass Saddam verschwunden war. Sie begannen, in dem rechtlichen Vakuum ihr rückwärts gewandtes Islambild durchzusetzen. Getragen von der ohnehin seit Jahren konservativen religiösen Grundstimmung im Land hätten sie die Frauen am liebsten ganz aus dem öffentlichen Leben verbannt und das islamische Recht, die Scharia, eingeführt. Um ein Haar wäre ihnen das auch gelungen.

Ende Dezember beschloss der Regierungsrat mit knapper Mehrheit, dass in Familienangelegenheiten künftig die Scharia gelten soll. Doch scheiterten sie damit am Protest von Frauenorganisationen. Im Verbund mit liberalen Politikern betrieben sie erfolgreiche Lobbyarbeit. Obwohl der Islam gemäß der Übergangsverfassung eine Quelle der Rechtsprechung ist, bleibt der rechtliche Einfluss der Geistlichen wie früher auf die Familie beschränkt. Außerdem setzten die Frauenorganisationen durch, dass die Gleichheit der Geschlechter und eine Frauenquote grundgesetzlich festgeschrieben wurde. Im künftigen Parlament soll mindestens ein Viertel der Mitglieder Frauen sein.

„Sie haben überhaupt nicht an die Folgen ihrer Entscheidung gedacht“, sagt Nezhat Mikail al-Fadhali über die Konservativen. In einem engen, schäbigen Büro am Familiengericht im Zentrum von Bagdad bearbeitet die Familienrichterin einen Stapel von Akten. Auf den Fluren des Gerichts herrscht enges Gedränge. Seit 29 Jahren tut sie hier Dienst. Vor allem das Recht der Männer auf die Mehrehe ist Nezhat Mikail ein Dorn im Auge. Diese ist zwar auch nach gemäß dem nunmehr wieder gültigen Personenstandsgesetz von 1959 möglich. Doch seien die Auflagen der Zivilgerichte so hoch, dass sie kaum ein Mann erfüllen könne, sagt al-Fadhali. Im vorigen Jahr habe ihr Gericht nur drei Zweitheiraten bewilligt. „Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter, wo die Männer alle und die Frauen keine Rechte haben“, schimpft die Richterin zwischen zwei Stempeln.

Antiquiert nennt auch Zekiye Khalifa die Haltung der Konservativen. Schauspielerin, Kommunistin und wortgewaltige Stimme für Frauenrechte ist sie auch mit 70 Jahren. Trotz körperlicher Gebrechen ist ihr Elan ungebrochen. Auf einen Stock gestützt, besucht sie täglich das Büro eines Verbandes von Frauenorganisationen. Hier heckt sie mit den Jahrzehnte jüngeren Frauen Pläne aus, um Frauen aus der häuslichen Isolation zu helfen und sie zur politischen Partizipation zu ermutigen. Fortbildungsangebote stehen dabei ebenso auf dem Programm wie das Verfassen von Petitionen an den Regierungsrat oder die Organisation von Demonstrationen.

Zivilrecht findet Konsens

Bereits als Teenager hat sich Khalifa in die Politik eingemischt. Zweimal saß sie deswegen im Gefängnis – das erste Mal noch unter der Monarchie und dann unter Saddam Hussein. Gegen den Willen ihrer Familie ging sie ans Theater und wurde in den 60er- und 70er-Jahren zum Star auf Bagdads Bühnen. Mit ihrem knielangen schwarzen Rock und dem kurzen, unbedeckten Haar wirkt sie unter den jüngeren Frauen, die in den letzten Jahren zur islamischen Verhüllung gegriffen haben, beinahe wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Nie mehr wolle sie sich das Wort verbieten lassen, sagt Khalifa. Schon gar nicht von den Islamisten, die in einigen Gegenden des Landes Frauen bedrohen, die sich in die Politik wagen.

Eines haben sie und ihre Mitstreiterinnen schon erreicht: Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens für die Beibehaltung der zivilen Familiengerichte. Dabei bekommen sie auch Rückendeckung von unerwarteter Seite – den Muslimschwestern. Schließlich basiere das jetzige Personenstandsrecht auf der Scharia, sagt die Leiterin Amel Qadhi. In einem Haus im Altbagdader Viertel Adhamiya betreibt die der sunnitischen Muslimbruderschaft nahe stehende Organisation seit 1955 ein Büro. Frauen in langen Mänteln und großen weißen Kopftüchern bevölkern das Gebäude an diesem frühlingshaften Vormittag. Zweimal die Woche gibt die Lehrerin Koranunterricht sowie Lektionen in Haushaltsführung und Kindererziehung.

Die Lehrerin hat noch eine Überraschung parat: Sie fordert nicht nur wie die Linken und Liberalen eine Erhöhung der Frauenquote auf 40 Prozent, sondern auch eine Verbesserung des Schutzes von Frauen bei Ehrenmorden. Das bisherige Gesetz liefert Ehebrecherinnen völlig der Willkür ihrer männlichen Verwandten aus, während Männer beim gleichen Delikt in der Regel straffrei ausgehen. Unhaltbar sei dieser Zustand, sagt Amel Qadhi.

Und Amanj Yusef? Bei der Stadtverwaltung in Medina Sadr hat man ihr versprochen, sich um den Fall zu kümmern. Viel setzt sie darauf nicht. Sie sagt: „Wenn die nichts tun, geh ich eben zu den Amerikanern.“