„Hart zuschlagen“: Die Praxis der Todesstrafe in China

In einem neuen Bericht fordert amnesty international ein Moratorium für Exekutionen und kritisiert die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien

BERLIN taz ■ Liu Yong wollte nach Russland, als er festgenommen wurde. Das war im Juli 2000. Am 17. April 2002 wurde er schließlich unter anderem angeklagt wegen Steuerhinterziehung, Körperverletzung, Erpressung, aber auch, den Mord an einem Zigarettenverkäufer in Auftrag gegeben zu haben. Für Letzteres gab es das Todesurteil.

Im Revisionsverfahren bezeugten acht Gefängnismitarbeiter, Lius Geständnis sei unter Folter zustande gekommen. Zudem belastete nur noch einer von acht Männern, die in Lius Auftrag getötet haben sollen, Liu als Auftraggeber. Das Todesurteil wurde für zwei Jahre ausgesetzt, ein in China übliches Verfahren. Doch in Internetforen wurde das Berufungsurteil kritisiert und vermutet, Liu habe sich durch Bestechung retten können. Im Dezember 2003 bestätigte das Oberste Volksgericht das Todesurteil, das sofort in einem Exekutionsmobil per Giftspritze vollstreckt wurde. Beobachter vermuten, ein Rechtsausschuss der Kommunistischen Partei habe das Todesurteil gegen den Rat der Richter beschlossen, um einen Präzedenzfall zu vermeiden, dass eine Strafe wegen offensichtlicher Folter abgemildert würde.

Lius Fall ist eines von mehreren Beispielen, die in einem heute von der Menschenrechtsorganisation amnesty international veröffentlichten Bericht (Executed „according to law“? The death penalty in China) aufgeführt werden und schwere Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien zeigen. Amnesty fordert ein sofortiges Moratorium der Todesstrafe in China und kritisiert, dass außer der Zulassung von unter Folter erzwungenen Aussagen Tatverdächtige beim ersten Verhör kein Recht auf einen Anwalt haben und Richter unter Druck der Partei stehen, bestimmte Urteile zu liefern.

Die Kommunistische Partei fordert immer wieder in Antikriminalitätskampagnen, wie zurzeit unter dem Namen „Hart zuschlagen“, abschreckende Urteile. Dabei sind in China Todesstrafen für Verbrechen üblich, die keine Gewalt gegen Menschen beinhalten und anderswo nicht mit dem Tode bestraft werden dürfen. Dazu gehören Korruption, Steuerhinterziehung, Geldfälschung, Schmuggel, Zuhälterei, das Töten eines Panda-Bären sowie der Verstoß gegen Sars-Quarantänebestimmungen.

Amnesty zitiert einen Rechenschaftsbericht des Obersten Volksgerichts, wonach von 1998 bis 2002 in allen erstinstanzlichen Gerichtsverfahren des Landes 99,1 Prozent der Angeklagten schuldig gesprochen wurden. Die Zahl der Hinrichtungen ist noch immer Staatsgeheimnis. Für 2002 zählte amnesty 1.016 Hinrichtungen auf der Basis chinesischer Medienberichte (2001: 2.468). Bisher schätzten Beobachter das wahre Ausmaß jährlicher Exekutionen auf 3.000 bis 15.000.

Am Rande der diesjährigen Plenartagung des Nationalen Volkskongresses in Peking, wo die Todesstrafenpraxis erstmals prominent kritisiert wurde, sprach der Rechtsprofessor und Volkskongressdelegierte Chen Zonglin von „fast 10.000 Fällen von Todesstrafen, die mit einer sofortigen Hinrichtung enden“ (taz vom 16. März). Nachdem diese Zahl aufhorchen ließ, dementierte sie Chen, obwohl er sie unmittelbar zuvor noch gegenüber AFP als Schätzung von Abgeordneten und Wissenschaftlern qualifiziert hatte. Als Indiz für eine hohe Dunkelziffer von Todesurteilen wertet amnesty auch die Anschaffung von 18 Exekutionsmobilen durch die Behörden der Provinz Yunnan 2003. Diese Anschaffung würde bei einer Exekutionszahl keinen Sinn machen, so die Organisation, wenn diese so niedrig wäre wie von offiziellen Medien gemeldet. Demnach wurde 2002 in Yunnan 17 Personen hingerichtet.

SVEN HANSEN