Der sagenhafte Crameroid

Astronomen entdecken neuen Planeten und entfesseln kosmischen Gelehrtenstreit

In Montreal ist man sich sicher: Der neue Planet ist aus einem Schwarzen Loch geschlüpft

Wie Professor Jack Mellenkamp vom astrophysikalischen Institut der Universität Montreal am vergangenen Donnerstag auf einer Pressekonferenz im University Convention Center mitteilte, ist im Orbit des Pluto ein neuer hochautoaktiver Mond entdeckt worden, der aber von verschiedenen Fachleuten und selbst von australischen Experten durchaus auch als Planet eingestuft werde – mit vollwertiger Rotation, Gravitation und höheres Leben unterminierender Mineralisationsirritation der Bio- und Paläosphäre.

Diese Beobachtungen und Erkenntnisse seien sicherlich einerseits gewöhnungsbedürftig, andererseits aber in gewisser Weise durch und durch gewöhnlich, so Mellenkamp. Man habe, schloß Mellenkamp seine Ausführungen, dem „neuen Mitglied unseres Firmaments“ den Namen „Crameroid“ gegeben – „nach dem Mann, der aus dem Nichts kam und der Sage nach im Mond wohnen soll“.

Trotz dieser etwas leichtfertigen Bewertung der sensationellen Entdeckung machte die Nachricht aus Montreal überraschend schnell die Runde um die Welt. Während noch Mellenkamps Assistenten Dr. Sudau und Dr. McCullen die Einschätzungen ihres Dienstherren durch Internetkommuniqués an alle Nachrichtenagenturen der vernünftigen Hemisphäre zu stützen versuchten und das exorbitant normale Drehmoment von „Crameroid“ beschrieben, intervenierte bereits am Freitag, Ortszeit 5.34 Uhr, der in Tübingen ansässige Professor Esteban Ramirez. Zwar stimme er der Namensgebung „Crameroid“ zu, ließ Ramirez über die Nachrichtenagentur dpa verbreiten, doch seine eigenen, nach der Montrealer Konferenz umgehend aufgenommenen Himmelsforschungen hätten zutage gefördert, dass „Crameroid“ ein ausgesprochen umtriebiger Planetoid der Gattung „Anhängselabsprengsel“ sei. Auf den Satellitenbildern seines Instituts sei unzweideutig zu erkennen, dass „Crameroid“ auf Grund einer außergewöhnlich porösen Surfacestruktur als Abbröckling der Erde zu betrachten sei, und zwar, genauer gesagt, als Kometeneinschlagssplitter aus dem Jahre 44143 vor aller Zeitrechnung. Dafür sprächen vor allem die indoendogenen Verwirbelungen im Planetennebelstaub von „Crameroid“ und sein „durchaus singuläres Durchdrehmoment“.

Eine Antwort aus Montreal ließ nicht lange auf sich warten. Mellenkamp wies die Tübinger Vorstellungen als „unglaublich abwegig“ zurück und darauf hin, dass „Crameroid“ unzweifelhaft als autodynamische Universumskreation einzustufen sei, die, so Mellenkamp wörtlich, „aus irgendeinem Schwarzen Loch geschlüpft ist“.

Ramirez ließ daraufhin durch seinen Assistenten Bruno Junk (M. A.) erklären, man halte die in Montreal entwicklten Ansichten für „eine plakativ-plagiatorische, ja plumpe Adaption der agitatorischen Theorie der Schwarzen Löcher“, die „so hohl“ sei, „wie es das Wort schon besagt“. Die Frage sei doch vielmehr, ob „Crameroid“ überhaupt „ein intelligentes Zentrum“, einen „Weltkern“ besitze, aus dem heraus „etwas Originäres“ entstehen könne, das es rechtfertige, sich weiter mit diesem „doch sehr randständigen planetarischen Element“ zu beschäftigen.

Die Worte versiegten also nicht. Mittlerweile hat sich auch die US-amerikanische Fachzeitschrift Planet Review eingeschaltet. Deren Mitarbeiter J. M. Ratz macht darauf aufmerksam, dass dieser scheinbar abwegige „Streit zwischen zwei Gelehrtengruppen von hoher Undichte“ gleichwohl eine Bedeutung für die menschliche „Weltheit“ besitze. Denn wenn man einmal annehme, dass „Crameroid“ über das ja unstrittige Mare Crisium auf seiner Nordflanke hinaus auch über eine offenbar in Rechnung zu stellende „eigenthochthone Strahlung“ verfüge, so sei zu vermuten, dass aus diesem braunen „Gravitations- und Simulationsschleuderzentrum“ heraus ein „Crameroid II“ entstehen könnte, der „womöglich bald auf die Erde“ falle und von dem man nicht wisse, was er „sonst noch anstellen wird“.

Was dieser sich in die allgemeine Öffentlichkeit ausdehnende Streit nach sich ziehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Immerhin wies bereits die in Zürich beheimatete Le monde différent die Planet Review in die Schranken und mahnte eine selbst- und begriffskritische, das heißt eine „entfremdungstheoretische Hermeneutik der Astrophysik als Wissenschaft und Kategorienapparat“ an. Aus Tübingen war derweil plötzlich zu hören, dass man „sich daran“ erinnere, bereits 1973 einen „dem ‚Crameroid‘ verflucht ähnlich sehenden Orbitfaktor“ als „defizient ontologisch“ klassifiziert zu haben. „Wir müssen deshalb“, so Assistent Junk, „alle Methoden auf den Prüfstand stellen.“

Ein für diesen Monat anberaumtes außerordentliches Symposium der Astrophysikalischen Vereinigung in Bologna jedenfalls soll nun, wie ihr Pressesprecher Marcello Manzoni in der ARD-„Tagesschau“ erklärte, „alles klären. Aber das kann mehrere Monde dauern.“

Wir bleiben am Globus.

JÜRGEN ROTH