: Es ist Zeit für einen Aufstand
betr.: „Kaputte Demokratie“, „Härter, immer härter“, „Exarchia ist überall“, taz vom 10. 12. 08
Ich kann die jungen Menschen in Griechenland mehr als verstehen. Ihr Aufstand ist stellvertretend Ausdruck eines perspektivlosen, immer düsterer werdenden Zustands von Lebenswelten in den meisten Regionen auf der Erde. Er ist ein Zeichen gegen die Dogmen des globalen Kapitalismus mit Gewinnmaximierung, Freihandel, Wachstums- und Konsumfetischismus sowie im Besonderen einer weit verbreiteten Weiter-so-Politik der Offiziellen. Er richtet sich gegen die daraus resultierenden ungerechten und programmierten Lebensumstände ganzer Generationen. Die Gewalt richtet sich deshalb symbolisch und direkt gegen Banken, Hotels, Geschäfte, Autos, die Sicherheitsbehörden, aktuelle Politik. Er richtet sich gegen ein Bildungssystem, das, wenn überhaupt, meist nur noch die externen Kosten der Gewinnmaximierer zur Nutzbarmachung von „Humankapital“ darstellt.
Insofern ist es so, dass ich das Schweigen und die Ruhe in Deutschland und anderswo kaum nachvollziehen kann. Es wäre Zeit für einen Aufstand gegen tägliche Ideenlosigkeit, Einfalt, Dummheit und das Behaupten: nichts sei besser, als dieses kapitalistische Wirtschaftssystem, es müsse nur angepasst werden. Es wäre Zeit für einen Aufstand vielfältiger Ideen, Diskussionen und Praxis, die sich solch wichtigen Fragen ohne Denkverbote stellen: Wie muss die Struktur als auch konkrete Praxis einer Wirtschaft aussehen, und wie gelangt mensch dahin, die kein quantitatives Wachstum zur Grundlage haben muss, die Gerechtigkeit fördert, kulturelle und ökologische Vielfalt erhält und dennoch regional wie global ein Wachstum der Lebensqualität sowie der Demokratie hervorbringt? Und das ist nur eine Frage von vielen!
Den jungen Anarchisten und Autonomen in Griechenland zu unterstellen, sie hätten „ihre Ideologie“ verloren, „sofern es sie je gab“, wie es Werner van Gent tut, nur weil auch ein paar kleinere Geschäfte in der wachsenden Masse der Agierenden zu Schaden gekommen sind, ist Unsinn und zeugt von der üblichen Doppelmoral bürgerlicher Rhetorik und Denke. Im Zeichen der aktuellen Finanzkrise kann der Angriff auf Banken auch in bürgerlichen Kreisen nicht ganz so übel genommen werden, so wird von den Medien und Parteien wieder mit den Arbeitsplätzen und Einkommen der kleinen Leute argumentiert. Die oft einseitig medienbeeinflusste Masse von Menschen auf der Straße quatscht es nach oder vor.
Wen interessieren aber bitte sonst die vermeintlich „kleinen Leute“, wenn sie für Hungerlöhne schuften, wenn Familien an der abverlangten Flexibilitäts- und Leistungsgesellschaft kaputt gehen, wenn Polizisten in Deutschland, wie im „Fall Dessau“ freigesprochen werden und nicht nur, aber im besonderen an den Grenzen Europas die Flüchtlinge sterben usw.
Die Geschehnisse in Griechenland sind, wie die in Frankreich vor zwei Jahren, herausragende Zeichen einer komplexen globalen gesellschaftlichen Krise, die längst nicht nationalstaatlich zu begreifen ist. Wenn Politik und Wirtschaft einen Transformationsprozess im Sinne oben genannter Fragen nicht fördern und beschleunigen, dann fliegt ihnen und uns in naher Zukunft die Ignoranz als Chaos und blutige Unruhen überall um die Ohren.
TINO KRETSCHMANN, Berlin