: Wildwest in Bagdads Straßen
Bagdads Bürger fühlen sich wie unfreiwillige Darsteller in einem Western: Der amerikanische Sheriff kämpft um Ruhe und Ordnung in der Stadt
aus Kairo KARIM EL-GAWHARY
General a. D. Jay Garner, der ehemalige amerikanische Militärverwalter des Irak, war es leid, von Journalisten immerzu auf die Mängel seiner Verwaltung angesprochen zu werden. „Wenn wir in den Spiegel schauen, dürfen wir stolz sein und sagen: ‚Verdammt noch mal, wir sind Amerikaner‘ “, explodierte der pensionierte General bei einer dieser Gelegenheiten.
Sein Nachfolger Paul Bremer verdankt sein neues Amt wohl auch seiner, im Vergleich zu Garner, geschliffeneren Ausdrucksweise. Als eine „wunderbare Herausforderung“ bezeichnet er seine neue Aufgabe.
Von „Herausforderung“ sprechen die Amerikaner meist dann, wenn einiges schief gelaufen ist. Selbst der US-Partner Großbritannien gibt inzwischen offen zu, dass die Ergebnisse der ersten Wochen amerikanisch-britischer Verwaltung im Irak „nicht so gut wie erhofft ausgefallen sind“, wie der britische Außenminister Jack Straw sagte.
Die Einwohner Bagdads, meist froh, Saddam Hussein los zu sein, sind zusehends frustrierter, was die amerikanische Verwaltung der Stadt angeht. „Wilder Westen“ ist ein von ihnen immer wieder gebrauchter Begriff, seit die Amerikaner das Amt des Sheriffs übernommen haben. Wenn in den letzten Wochen überhaupt etwas geschehen ist, dann, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in der irakischen Hauptstadt immer mehr verschlechtert hat.
Nachdem anfangs die Ministerien und staatlichen Institutionen, die Paläste und Villen reicher Vertreter des alten Regimes geplündert wurden, werden jetzt immer öfter die ganz normalen Bürger der Stadt tagsüber und auf offener Straße überfallen. Viele trauen sich nicht mehr, mit größeren Geldbeträgen auf den Märkten der Stadt einkaufen zu gehen, und nach Sonnenuntergang gehen nur die ganz Mutigen auf die Straße, erzählt ein Einwohner der Stadt am Satellitentelefon. Bis heute gibt es keine normale internationale Telefonverbindung mit der Stadt.
Carjacking gehört inzwischen zur Tagesordnung. Mit gezogener Waffe werden Autofahrer gezwungen ihren Wagen herauszurücken; die Autos werden dann meist in die kurdischen Gebiete im Nordirak verschoben. Die Bestohlenen sind auf sich allein gestellt und greifen gelegentlich zur Selbsthilfe. Etwa jener Mercedes-Fahrer im Bagdader Bezirk Karada, der eine Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz liegen hatte und damit kurzerhand fünf Männer über den Haufen schoss, als diese versuchten, sich mit Waffengewalt seinen Markenwagen unter den Nagel zu reißen. Die herbeigerufenen US-Soldaten kamen Stunden später, um die Leichen zu fotografieren. Die lagen noch am nächsten Tag auf der Straße.
Seit wenigen Tagen sind die Schulen wieder geöffnet, aber viele Bagdadis haben Angst, ihre Töchter wieder zum Unterricht zu schicken. Es kursieren zahlreiche Geschichten in der Stadt von entführten und anschließend vergewaltigten Mädchen. „Sie stehlen unbehelligt deine Frau, deine Töchter und dein Auto“, beschreibt ein Einwohner der Stadt sein Gefühl totaler Unsicherheit.
Die amerikanischen Militärverwalter hatten gehofft, dass die irakische Polizei sie möglichst bald wieder entlastet. Die Hälfte der irakischen Polizisten haben sich auch tatsächlich wieder zum Dienst gemeldet, die meisten von ihnen werden allerdings erst umgeschult. Von den mehr als sechzig Polizeistationen in der Hauptstadt arbeiten bis jetzt nur zwei. Die anderen wurden nach Kriegsende geplündert.
Die begrenzte irakische Beteiligung an der Polizeiarbeit lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: Laut General William Webster, Vizekommandeur der US-Bodentruppen im Irak, führen seine Soldaten in Bagdad binnen 24 Stunden 426 Patrouillen durch, nur 15 davon werden von irakischen Polizisten begleitet.
Oft wird das Sicherheitsvakuum von selbst ernannten islamistischen Milizen genutzt, die dann ihre Vorstellung von Recht und Ordnung durchsetzen. So wurden im Bezirk Beni Saad letzte Woche mehr als ein Dutzend kleine Fabriken niedergebrannt, die alkoholische Getränke herstellen. Als einer der Besitzer die US-Truppen um Hilfe bat, erhielt er die Antwort, man dürfe sich leider nicht in Konflikte zwischen Muslimen und Christen einmischen.
US-Militärverwalter Paul Bremer hat letzte Woche sein Amt angetreten mit dem Versprechen, schärfer gegen Plünderer und andere Kriminelle vorgehen zu wollen. Das Pentagon kündigt ein Aufstocken seiner Truppen in Bagdad um 4.000 Soldaten an. Anders als ursprünglich berichtet, hat Bremer nach eigenen Worten keinen Befehl erteilt, auf Plünderer und andere Kriminelle zu schießen.
Dennoch sind immer wieder, vor allem nachts, Schusswechsel zwischen US-Truppen und marodierenden Banden zu hören. Die irakische Tageszeitung Al-Zaman berichtete letzte Woche, der stadtbekannte Räuberhauptmann, der sich frei nach „1.001 Nacht“ den Namen Sindbad gegeben hatte, sei mit fünf seiner Männer von den Amerikanern erschossen worden. Sindbad hatte wenige Tage zuvor von sich reden gemacht, als er auf dem Fadl-Platz im Zentrum Bagdads vollkommen betrunken größere Mengen Geld in die Menge geworfen hatte.
Ein weiteres großes Problem sind die frei kursierenden Waffen im Land. An Straßensperren durchsuchen US-Soldaten verdächtige Fahrzeuge. Noch vor wenigen Wochen hatten sie, wenn sie fündig wurden, die Waffen nur konfisziert. Nun verhaften sie auch deren Besitzer. Musste jeder, der zuvor von US-Soldaten festgenommen wurde, mit einer maximalen Haftstrafe von zwei Tagen rechnen, sitzt man jetzt in der Regel für drei Wochen. Funktionierende Gerichte gibt es noch nicht.
Auch in der gut eine Autostunde von Bagdad entfernten südirakischen Stadt Hilla versuchen die US-Truppen inzwischen, mit Gewalt Ordnung zu schaffen, berichtet Al-Zaman. Wie überall im Land stehen auch dort Autofahrer stundenlang an Tankstellen an, um ein paar Liter Benzin zu ergattern. Ein Mann wollte die Wartezeit abkürzen, fuhr an der Schlange vorbei und an der Zapfsäule vor. Als er ausstieg, hielt eine Handgranate hoch und drohte, die ganze Tankstelle in die Luft zu jagen, wenn sein Auto nicht unverzüglich voll getankt werde.
Wie an den meisten Tankstellen des Landes stand auch hier eine Gruppe amerikanischer Soldaten Wache. Sie warteten, bis der Mann mit voll getanktem Fahrzeug wegfuhr. Wenige hundert Meter von der Tankstelle entfernt jagten sie ihn zusammen mit seinem Auto mit einer Panzerabwehrgranate in die Luft.