Der Büchner in mir

Thomas Ostermeiers „Woyzeck“ in Berlin will alles für alle

Nichts gegen „Woyzeck“ im Cinemascope-Format. Warum es auch nicht mal mit allem Aufwand versuchen, zu dem die Berliner Schaubühne nun einmal wie keine andere deutsche Bühne fähig ist? Auch nichts gegen eine entschiedene Aktualisierung. Woyzeck Erbsen fressend in einem Plattenbaubezirk im Berliner Osten – mögen strenggläubige Textexegeten das banausisch finden, funktionieren könnte es dennoch. Als Experiment wie als Behauptung ist Thomas Ostermeiers wuchtige Beschäftigung mit Georg Büchner dann auch durchaus beeindruckend. Glücklich macht die Inszenierung aber keineswegs.

Mag sein, dass man als Zuschauer zunächst einfach überfüttert wird. Thomas Ostermeier jedenfalls will alles: den realistischsten sozialen Realismus wie die abruptesten Brechungen, den verhetztesten Woyzeck-Darsteller aller Zeiten wie die kämpferischsten Kampfszenen, die lauteste Heavy-Metal-Musik wie die lyrischsten Sonnenaufgänge, die geilste Sozialkritik wie die lustigsten Szeneneinfälle, die prolligsten Brüllarien wie das differenzierteste Futter für die Wahrnehmungskünstler unter den Zuschauern.

Es geht jedenfalls ganz schön was ab auf der Bühne. Jede Möglichkeit, den armen Woyzeck von üblen Kampfhundehaltern und sonstigen Deklassierten zusammenschlagen zu lassen, wird genutzt. Dicke Eier haben aber nicht nur die Männerhorden, die über – auch das muss gesagt werden – den ganz wunderbaren Hauptdarsteller Bruno Cathomas herfallen; dicke Eier hat – mit Verlaub – auch die Umsetzung. Hey, seht mal, was ich alles kann, so scheint die Inszenierung die ganze Zeit auszudrücken. Und was das Bühnenbild gekostet hat, will man erst gar nicht wissen. „Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt“, so sagt der Hauptmann einmal zu Woyzeck. Die Inszenierung rast mit einem offenen Scheckheft durch das Stück.

Vielleicht wäre es bei so viel Lust zu trashigem Pomp und Unterklassenprunk inklusive Kampfhund, Bier und Bomberjacken ganz gut gewesen, wenn auch die vertrackten Details klappen würden. Es ist aber nicht wirklich einleuchtend, dass Woyzeck aus wissenschaftlichen Gründen Erbsen essen und in Becher pissen muss, wenn der Doktor des Stücks zum schmierigen Zuhälter mutiert oder, auch die Lesart der Inszenierung ist möglich, zum knallchargenhaften Westinvestor. Was der ebenso ludenhafte Hauptmann an Woyzeck herumzukommandieren hat, ist auch nicht recht klar.

Es hilft auch nicht wirklich weiter, dass die Ausführungen zum Status des Menschseins, bei Büchner in eine Jahrmarktbudenatmosphäre gesetzt, an einem Grillabend am Baggersee verhandelt werden, wenn dort unterm Strich nur ein „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ herumkommt. Die Szenen für sich genommen sind megaeindrucksvoll. Nur der Text schaut halt auch bei dieser Woyzeck-Inszenierung fremd zurück, so sehr sich Thomas Ostermeier auch um Motivierungen bemüht. Im Übrigen taugt das alles auch nicht dazu, den der Schaubühne gerne gemachten Vorwurf des Sozialkitsches zu entkräften, im Gegenteil.

Irgendwann vermutet man beim Konzeptionellen dieser Inszenierung sowieso ein Problem. Anstatt die Radikalität Büchners zu untersuchen und transparent zu machen, wollte, so denkt man, Thomas Ostermeier selbst so radikal sein wie Büchner. Dem Publikum mit dem Arsch ins Gesicht springen (in einer Szene sieht es wirklich so aus), so wie Büchner den Theaterkonventionen ins Gesicht sprang! Schonungslos die schlimmen Verhältnisse am Rande der Gesellschaft aufdecken, so wie Büchner sie aufdeckte! Den Menschen so nackt und brutal und hilfsbedürftig zeigen, wie Büchner ihn zeigte! Büchner, da scheint sich Ostermeier sehr sicher zu sein, würde heute für die Schaubühne schreiben. Womöglich war er sich zu sicher.

Der Mensch ist, so lautet eine längst zum Gassenhauer gewandelte Sentenz des Stückes, ein Abgrund. Diese Inszenierung würde es auch so gerne sein – und trägt doch, wenn man das ganze theatralische Brimborium wegnimmt, nur ziemlich dick auf. So wird der „Woyzeck“ nicht zuletzt benutzt als Fetisch für einen Theateransatz, der sozialkritische Selbstlegitimationsdiskurse führt. DIRK KNIPPHALS