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Archiv-Artikel

Die Stadt, die ständig Theater macht

Dritter Teil der Serie „Polen in einem Tag“: Poznań ist bekannt für seine alternative Theaterszene – und für Europas größtes Straßentheaterfestival

Vom Ostbahnhof fährt der Eurocity in knappen drei Stunden nach Poznań. Kurz hinter der Grenze steigt Agnieszak Szczepaniak zu. „Geh ins Theater“, rät die Studentin. Sie besuche gern Vorstellungen im Teatr Wielki, dem großen Theater. Zu dem wuchtigen Sandsteinbau ist es vom Bahnhof nicht weit zu Fuß. Auf dem Spielplan stehen Opern, Dramen und manchmal auch Tanz.

Das Poznaner Ballett ist in einer schmalen Seitenstraße des Marktplatzes Rynek versteckt. Eine Platte neben der Haustür weist darauf hin, dass hinter der abbröckelnden Fassade das renommierte Teatr Tanca (Theater des Tanzes) logiert. Den guten Ruf verdankt das Haus vor allem seiner Leiterin Ewa Wycichowska, die seit 16 Jahren Chefin ist. Sie machte aus dem Ballett ein Theater für modernen und zeitgenössischen Ausdruckstanz. Klassisch geblieben ist nur die Ausbildung der 20 Tänzerinnen und Tänzer.

Vor einem Jahr wurde Wycichowska als Professorin nach Warschau berufen. Ihr Yorkshire-Terrier Herz vertritt sie und liegt schlafend zu Füßen Jagoda Iganczaks. Diese ist ganz in schwarzen Jeansstoff gekleidet und sieht eher einer Motorradfahrerin als einer Ballerina ähnlich. „Ich bin Theaterwissenschaftlerin und die literarische Leiterin“, klärt sie auf.

Das Theater hat keinen eigenen Saal. „Das hat Vorteile: Wir gehen zum Publikum und warten nicht, bis es kommt. So wie uns geht es vielen“, sagt sie. „Eine Menge Gruppen treten an allen möglichen Orten auf, in Poznań kann man Theater überall finden.“ Die Stadt sei bekannt für ihre vielseitige Szene. Sie zählt die bekanntesten auf: Teatr Strefa Ciszy (Leise Zone), Teatr Usta-Usta (Mund-zu-Mund-Beatmung), Teatr Biuro Podrózy (Reisebüro). Legendär sei das Teatr 8. dnia, das Theater des achten Tages. Es wurde 1964 als Studententheatergruppe gegründet und spezialisierte sich auf politische Themen. „Die Schauspieler spielten vor allem auf der Straße“, erzählt sie. „Sie wollten die Leute konfrontieren und provozieren.“ Das ist ihnen gelungen. Während der Zeit des Kriegsrechts in den 80er-Jahren wurden die aufsässigen Theaterleute des Landes verwiesen. Anfang der 90er durften sie zurückkehren. Das Straßentheater hat seitdem viele Nachahmer gefunden.

Einmal im Jahr treffen sie sich zum Malta-Festival, dem größten Straßen-Theater-Ereignis Europas. Dann treten überall auf den Straßen und Plätzen Poznańs Theatergruppen auf. Die Pressesprecherin des Organisationsteams hat den Überblick verloren: „Wir wissen nicht, wie viele freie Gruppen es gibt. Neue tauchen auf, alte verschwinden.“

Das Malta-Festival habe zweifellos einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Off-Theater-Szene gehabt, sagt Lucyna Winkel. Sie selbst hat eine Theatergruppe mitgegründet, das Theater Blum für Kinder und Eltern, das mehrmals im Monat im Kulturhaus Wierzbak auftritt. „In Poznań tut sich sehr viel, aber es ist traurig, dass Jahr für Jahr Geld gestrichen und es für die Theater immer schwieriger wird. Selbstständige Gruppen wie wir bewegen sich an der Grenze der finanziellen Möglichkeiten“, klagt sie. Auch für die staatlichen Theater wie das Teatr Tanca ist die Situation schwierig.

„Es ist fast einfacher im Ausland aufzutreten, weil die Bedingungen besser sind“, meint die literarische Leiterin Ignaczak. Für jede Aufführung müssten Sponsoren gefunden werden. „Wir haben uns noch etwas anderes ausgedacht“, fügt sie hinzu. Jedes Jahr im Mai veranstaltet das Ballett einwöchige Workshops. Im letzten Jahr kamen 2.000 Tanzbegeisterte aus ganz Europa. Auf den Beitritt zur EU bereitet sich das Theater seit längerem vor: Am 5. Mai wird „Wchodze“ (Eintritt) uraufgeführt.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof kicken sich zwei Clowns quer über den Gehweg bunte Bälle zu. „Wir sind arme Studenten, die nach Nepal reisen wollen. Wir bitten um Unterstützung. Hier, schöne Frau“, sie verteilen Plastikrosen und zücken den Hut. Es ist wahr: Das Theater ist überall.

ANNA LEHMANN

Verbindungen per Bahn nach Poznań: Mehrmals täglich fahren Züge von Lichtenberg und Ostbahnhof. Informationen zum Teatr Tanca: www.ptt-poznan.pl. Malta-Festival vom 29. Juni bis 3. Juli: www.malta-festival.pl. Nächste Woche: Ferien auf dem Lande