Das letzte Agnoli-Seminar

Am 4. Mai starb Johannes Agnoli. Von 1962 bis 1990 hat er am Otto-Suhr-Institut gelehrt. Eine Gedenkveranstaltung erinnerte an den Querdenker und Individualisten, der Themen wie Revolution, Freiheit, Emanzipation, Subversion viel Zeit widmete

„Das Ende der Ideologie ist die Ideologie der heutigen Zeit“

von WALTRAUD SCHWAB

Eine Trauerfeier für Johannes Agnoli war das nicht. Eher das allerletzte Seminar am Otto-Suhr-Institut (OSI) zur ultimativen agnolischen Kritik an einer immer falschen Politik. Fast 30 Jahre hatte der Professor am OSI gelehrt. Anfang Mai ist er 79-jährig in der Toskana gestorben.

Agnoli-Fans und Kritikerinnen, Mitstreiter und Weggefährten saßen noch einmal dicht gedrängt an den Tischen im Hörsaal A. Ein bisschen in die Jahre gekommen sind sie. Grauhaarig, mit Brille, auf Haltung bedacht. Einige unter ihnen haben sich einen Namen gemacht. Viele nicht, denn was Agnoli lehrte, war nicht staatstragend, sondern schöpfte aus einem eigensinnigen Bekenntnis zur Freiheit. Für ihn, und darin sind sich diejenigen einig, die sich zu Wort melden, war die Freiheit immer die Freiheit des Individuums.

„Trauern, Gedenken und die Inaugenscheinnahme des Agnoli-Erbes“ – darum sollte es nach den Worten des geschäftsführenden OSI-Direktors Bodo Zeuner bei der Veranstaltung gehen. Dies waren, wie sich in den nächsten drei Stunden zeigte, die einzigen getragenen Worte. Trauer war nicht zu spüren. Eher verpasste, wer nicht da war, einen Crash-Kurs in Sachen Agnoli: Querdenker, Professor, Bergsteiger, Wehrmachtssoldat, Individualist, in Jugendzeiten Faschist, Genosse, Denker, Freund, Maulwurf und Bücherwurm, kein Freund des Staates, Schüler und Lehrer. Bei „Genosse“ gibt es von den Alten verhaltene Zustimmung.

Um sich mit der Person vertraut zu machen, wurde der vor zwei Monaten fertig gestellte Film „Das negative Potential – Johannes Agnoli im Gespräch“ von Markus Mischkowski und Christoph Burgemer gezeigt. Ein unterhaltsamer, 70 Minuten langer Diskurs Agnolis mit sich selbst. Noch einmal wird deutlich, mit welcher Leichtigkeit und welcher Freude am Denken er sich der Kritik der Politik annahm. Das eigene Scheitern mit inbegriffen. „Man muss die kapitalistische Wirtschaft überwinden. Wie, das weiß ich auch nicht“, sagt er. Auf der Zielgeraden seines Lebens will Agnoli zumindest in Worten jene Ideen einholen, denen er die meiste Zeit seines Lebens hinterhereilte: Subversion, Revolution, Freiheit, Emanzipation. Dass die im Film festgehaltenen Sätze, mit denen er die Nachwelt beschenkt, letztlich eine Sammlung von Aphorismen und Thesen ist, wird nicht zu seinem Nachteil sein. Die Kurzform ist, was überdauert.

„Es ist ein wunderbares Gefühl, sich frei zu glauben“, sagt er. Und: „Wir leben in keiner Weltgesellschaft, aber in einem Weltmarkt.“ – „Erstaunt stellen wir fest, dass nicht das Proletariat, sondern die Globalisierung den Nationalstaat abschaffte.“ – „Suversion bedeutet, etwas verändern, wo die Freiheit fehlt.“ – „Jetzt ist die Frage, ob die revolutionäre Zeit vorbei ist und die Zeit der Subversion wieder begonnen hat.“ – „Wir werden scheitern, aber wir werden etwas verändern.“ – „Die Negation ist das Potenzial, das sich ein Subjekt sucht.“ – „Das Ende der Ideologie ist die Ideologie der heutigen Zeit.“ Nach so viel Rundumschlag eine Zusammenfassung. Agnolis Fazit: Negation ist der Weg zur Freiheit. Agnolis Vorschlag zum Handeln: Es muss eine Rückkehr zur politischen Bildung geben. Derzeit bedeute Demokratie für die Leute: eine freie Presse zu haben, die sie nicht lesen, und einmal alle vier Jahre zu wählen. Agnolis Zuversicht: Es gibt Zeiten, in denen muss überwintert werden. So eine ist angebrochen. Im Winter aber regiert das Prinzip Hoffnung. Irgendwann kommt Frühling. Kommt Sommer.

Besser hätte kein Redner den Maestro würdigen können als der Maestro sich selbst. Für die anwesenden Weggefährten war von daher das Feld frei für ihre privaten Agnoli-Erinnerungen. Matthias Pfüller, Professor im sächsischen Mittweida, erinnerte an den Faschisten, der Agnoli in seiner Jugend einmal war. Später wurde daraus ein Individualist und Bergsteiger. Es sei notwendig, auf eigene Rechnung zu denken, diesem Motto sei Agnoli verpflichtet gewesen. Mauro Grassi erinnerte an den italienischen Agnoli und Dolf Straub an jenen, der einmal in Urach in Schwaben lebte. Wolf-Dieter Narr gedachte des Närrischen an Agnoli, dem er sich aufgrund seines eigenen Namens verbunden fühlte. Dass Agnoli Frauen zu seinen Adeptinnen zählte, kann nicht bestätigt werden. „Schade, dann hätte er vielleicht gelebte Subversion kennen gelernt“, meinte eine Zuhörerin.