: Mit dem Pinsel ins Freie
Für Kinder ist es selbstverständlich, doch auch immer mehr Erwachsene entdecken es für sich: das Malen. Und damit einen Weg zu besserem Selbstbewusstsein & anderen guten Gefühlen
von JÜRGEN MEIER
Die Zungenspitze des siebenjährigen Pilo tanzt aufgeregt zwischen seinen Lippen. In seiner Hand ein breiter Pinsel, vor ihm ein Farbkasten. Pilo malt fast täglich ein Bild. „Ich male gern! Ein Hochhaus, einen Baum, eine Wiese, ein Mensch und einen Vulkan und eine Elf, eine Ampel.“ Er zeigt mit seinen verschmierten Fingern auf sein buntes Meisterwerk: „Da bricht gerade der Vulkan aus. Ein Mensch geht davor, wird aber nicht verletzt.“
Malen ist für Kinder ein selbstverständlicher Vorgang. Sie suchen nicht lange nach einem Motiv. Mit Pinsel oder den Fingern geht es in die Farben. Erwachsenen fällt dieser Weg viel schwerer. Dennoch ist auch die Zahl der malenden Erwachsenen in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Ingrid Höhn, verantwortlich für den Bereich Malen und Zeichnen in der Münchner Volkshochschule, hat das Kursangebot in diesem Bereich erweitern müssen. Waren es 1997 noch 194 Kurse, in denen gemalt und gezeichnet wurde, so sind es 2003 bereits 250. Petra Kaltenmorgen von der Hildesheimer Volkshochschule freut sich über die wachsende Zahl malender Erwachsener. Vor allem Frauen um die vierzig, deren Kinder gerade „aus dem Gröbsten raus sind“, so hat sie festgestellt, nehmen die Kursangebote wahr. „Diese Frauen brauchen einfach einen Abstand, ein Wiederankommen im Innern.“
Die älteste Teilnehmerin ist an diesem Sonntag eine 72-jährige ehemalige Versicherungskauffrau. Sie hat, wie alle hier, ihre Leinwand selbst bespannt. „Ich habe vor sieben Jahren das erste Mal überhaupt einen Pinsel in die Hand genommen.“ Das Malen, sagt sie, tue ihr gesundheitlich gut. „Sie kommen ja nicht auf die Idee, sich mit ihren schweren Gedanken zu beschäftigen, während Sie malen. Sie konzentrieren sich ganz auf das, was Sie machen.“
Die Motivsuche ist für Erwachsene zunächst schwieriger als für die Kinder. Kinder malen drauflos. Das nutzt die Psychotherapie in allen Bereichen kindlicher Traumatisierungen. So können Kinder, die zwar sprechen können, aber in bestimmten Situationen und im Umgang mit bestimmten Menschen sprachlos sind (Mutismus), malend ihre Emotionen abbilden. Die Bilder nutzen den Therapeuten als Brücke zum Gespräch. Erwachsene suchen erst einmal umständlich nach dem, was sie denn malen könnten. Haben sie es dann gefunden, gilt es, den eigenen Perfektionismus zu überwinden – und einfach draufloszumalen. „Hier kann man richtig in Farben schwelgen“, sagt die 36-jährige Sabine Kahlmeyer. „Ich bin Informatikerin und arbeite im Berichtswesen. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Das Malen selber ist befreiend.“
Einen Tag später treffen sich im gleichen Malatelier, das zu einer alten Grundschule gehört, Kinder zum Malen. Die elfjährige Franca erklärt mir, warum sich die Erwachsenen so schwer tun mit dem Malen: „Erwachsene sind ganz oft so steif. Sie sollten mal aus ihrer eigenen Haut raustreten und ihrer Fantasie wieder freien Lauf lassen.“ Kinder suchen kein Motiv, ihr Leben ist ihnen Motiv genug, um zu malen. Erwachsene scheinen das eigene Leben als Motiv erst entdecken zu müssen. Dann entstehen plötzlich Bilder, die deutlich zeigen, wie sie sich mit dem Pinsel aus einer beruflichen Routine oder einem monotonen Alltag entfernen wollen. Sie erleben sich selbst auf der Projektionsfläche der Leinwand oder des Papiers. Endlich einmal so sein können, wie man selbst fühlt und denkt.
In keiner psychiatrischen Klinik fehlt die Maltherapie. Durch sie sollen traumatische Erlebnisse verarbeitet werden. Petra hat Anorexia nervosa (Magersucht). Sie malt sich in der Mitte des Bildes kniend – sie hat gerade mit kräftigen Händen einen großen Stein in mehrere Felsbrocken zertrümmert. Vor ihr eröffnet sich dadurch ein langer, beschwerlicher Weg aus ihrer Krankheit, die ja weniger aus einem gesuchten Schönheitsideal als vielmehr aus einer gescheiterten Suche und Akzeptanz der eigenen Gefühle entstanden ist. Um Gefühle und um Selbstbewusstsein geht es in der Malerei immer. Wo gemalt wird, findet die Suche nach dem verborgenen Ich und der eigenen Lebenskraft statt.
Ist das nun Kunst, was in den Malzirkeln entsteht? „Nein!“, meint die ehemalige Bankangestellte, „Kunst ist das nicht.“ Kursleiterin Petra Kaltenmorgen ergänzt: „Kunst hat mit Bewusstsein zu tun und mit dem Willen, darüber die Welt zu verändern.“ Sich selbst wohl, aber die Welt will an diesem Sonntag niemand verändern.
Sükrü Cigdem ist gelernter Maschinenschlosser. Der 28-Jährige arbeitet am Tag in einer Kantine und will jeden Montagabend bei der Künstlerin Gaby Wicke in Hannover malen lernen. „Mich entspannt das“, sagt er. „Wenn ich richtig drin bin, gibt es mir ein Gefühl des Loslassens vom Alltagsstress, des Vergessens.“
Gaby Wicke, eine tatkräftig Mitfünfzigerin, fördert Kinder und junge Menschen. Sie trifft sich regelmäßig mit ihnen. Malen gehört für sie zum täglichen Leben: „Es ist Therapie ohne Therapeuten – wenn man das, was einen bewegt, auf der Fläche, sagen wir mal ganz grob, auskotzt, um seine Seele zu befreien, die Bauchschmerzen wegzubekommen oder die Blockade im Kopf.“ Oft fordert Wicke ihre Schüler auf: „Nun nimm die Farbe, die dich am meisten befreien wird. Du bist jetzt aggressiv, also greife eine Farbe.“ Rot zum Beispiel, oft aber auch schwarz.
Marten, 22, arbeitet in der Gastronomie. Er trägt mit einem Spachtel vorsichtig Farbe auf einen großen weißen Bogen auf. Seine Augen funkeln. „Malen ist völlig anders als Fotografieren, weil es nicht so perfekt ist“, sagt er, „weil es von einem selbst kommt.“ Klaudia, 21, hat ein Philosophiestudium abgebrochen und arbeitet jetzt als Trainerin. Sie malt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr und seit einigen Monaten bei Gaby Wicke. „Viele Menschen, die in einer Krise stecken und auf sich selbst zurückgeworfen sind“, hat sie beobachtet, „fangen an, für sich etwas zu entdecken – oft ist es Zeichnen oder auch Schreiben.“ Malen als Weg zur inneren Wahrheit. Und als Möglichkeit, Alltagsnöte zu verarbeiten.
Gaby Wicke arbeitet auch mit alten Menschen in einem Pflegeheim. „Das war hochinteressant zu beobachten“, sagt Wicke. „Ich kam nur einmal in der Woche, montags von neun bis zwölf. Auch diejenigen, die völlig desorientiert waren, wussten genau: Sie kommt und arbeitet mit uns, und es macht uns Spaß.“ Auch Behinderte hätten dann sehr konzentriert mit den Farben gearbeitet. An den Bildern konnte Wicke ablesen, „was diese Menschen nach einer Heimwoche alles mit dem Pinsel zu verarbeiten hatten.“
Wer Bilder malt, will sie irgendwann auch anderen zeigen, über die Bilder ins Gespräch kommen. Kinder schenken ihre inneren Botschaften meistens den Eltern, die dann sicher einen geeigneten Platz an der Küchenwand finden. Erwachsene haben es auch in dieser Hinsicht schwerer. Eine Galerie will ihre Produkte in den meisten Fällen nicht. Aber die Not macht immer mehr dieser Freizeitkünstler erfinderisch. Im Städtchen Freital, südlich von Dresden, haben sich die Hobbymaler in einer Gruppe zusammengeschlossen. Sie kommen aus den verschiedensten Berufsgruppen und wollen sich nicht nur gegenseitig Mut machen, sondern hoffen, als Gruppe leichter öffentliche Ausstellungsräume zu bekommen.
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Mit Hilfe von Pinsel und Farbe zum eigenen Lebensmotiv zu kommen scheint auch für Erwachsene gar nicht so schwer zu sein. Auch die Möglichkeiten, anderen Menschen das eigene Lebensmotiv bildnerisch zu präsentieren, sind vielfältig. Es kommt offensichtlich bloß darauf an, Klaudias Worte zu beherzigen: „Ich glaube, Aristoteles sagte einmal, wer das Gute kennt, der tut es auch.“
JÜRGEN MEIER, 53, lebt als freier Journalist in Hildesheim. Zuletzt erschien von ihm „Fortunas Kinder. Eine kleine Geschichte des Glücks“, Aufbau Verlag, Berlin 2002, 261 Seiten, 8,50 Euro