: Hände heilen Mutter und Kind
Die Osteopathie vollbringt keine Wunder. Aber sie hilft dem Körper, sich selbst zu heilen. Die Behandlung wirkt sowohl bei Schwangeren als auch bei Kindern, deren Geburt problematisch verlaufen ist oder die Schwierigkeiten im Bewegungsapparat haben
taz ■ Jonathans Mutter ist beeindruckt. Ihr acht Monate alter Sohn konnte in bestimmten Positionen seine Hüfte nicht richtig bewegen, auch einen Arm vernachlässigte er. Seine rechte Seite war „irgendwie blockiert“. Dem Rat der Physiotherapeutin und des Kinderarztes folgend, suchte die Mutter mit Jonathan einen Osteopathen auf. Der sah sich das Kind gründlich an und tastete es vorsichtig ab. „Dann machte er schwupp, schwupp, schwupp – und alles war in Ordnung“, so die Mutter. Auf Nachfragen erläutert sie, dass der Osteopath einige Stellen am Körper sanft angefasst und – etwa am Hals – sehr kleine Drehbewegungen ausgeführt habe. Sonst nichts.
Zauberei? Nein. „Die Osteopathie hilft dem Körper nur, sich selbst zu helfen“, sagt die Bremer Osteopathin Katharina Engemann. Das einzige Instrument der Therapeutin/des Therapeuten sind ihre/seine Hände. Mit ihnen fühlt er sich in den zu behandelnden Körper ein, spürt die Dynamik der Gewebe, die Schwachstellen und Blockierungen auf und gibt auch die Anregung zur Selbstheilung. Die Berührungen sind mitunter so sanft, dass der Patient sie kaum spürt. Zwischen den einzelnen Behandlungen lässt man dem Körper ausreichend Zeit, selbst wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Je weniger lange dieser Körper sich bislang mit dem Problem herumgeschlagen hat, umso leichter ist es natürlich, ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Gerade Babys und Kinder sprechen deshalb besonders gut auf die osteopathische Therapie an. Engemann hat ihre größten Erfolge bei „Kindern, die assymetrisch sind“, sagt sie. Kinder also, die von Geburt an „schief“ sind oder es in den Wochen nach der Geburt werden. Babys, die nur eine Seite benutzen, sich nur auf eine Seite drehen oder nur einen Arm wirklich benutzen. „Osteopathie“, erklärt sie, „bedeutet eigentlich die ‚Lehre vom Leiden der Knochen‘. Aber es geht bei uns ums Bindegewebe“. Durch sanftes Tasten und Dehnen werden Spannungen und Verhärtungen erspürt – auch wenn sie lange zurückliegen. Denn oft ist die Ursache für die Verspannungen die Geburt, bei der Kinderkopf und Schultern heftigen physikalischen Kräften ausgesetzt sind. Normalerweise ‚entknautscht‘ sich hinterher alles von selbst wieder. Funktioniert das nicht, kann es zu lang andauernden Störungen in allen möglichen Bereichen kommen. Störungen, die verschwinden und dann plötzlich wieder auftauchen. So behandelt Katharina Engemann zum Beispiel einen achtjährigen Jungen, den sie als Baby intensiver betreut hat, der aber auch jetzt noch einmal im Jahr zu ihr kommt. „Denn auch die Wachstumsprozesse verlaufen ja nicht immer symmetrisch“.
Asymmetrien sind aber beileibe nicht das einzige Arbeitsfeld der Osteopathen. Behandelt wird auch bei Stillproblemen, Koliken oder bei den sogenannten Schreikindern (siehe auch grauen Kasten).
Und dann sind da noch die Schwangeren. Auch hier können zahlreiche Beschwerden erträglicher gemacht oder ganz behoben werden. Gerade in der Schwangerschaft muss sich der Körper durch den permanent wachsenden Uterus ständig neu einrichten und alle Funktionen müssen sich an die Veränderungen anpassen. So können sich Fehlhaltungen und Verformungen der Wirbelsäule erst während der Schwangerschaft und mit der zunehmenden Last des Kindes bemerkbar machen – die Folge sind starke Schmerzen im Kreuz, Kopfweh oder schwere Beine. Umgekehrt kann es durch die veränderte Lage aller Organe im Bauchraum auch passieren, dass Rückenschmerzen in der Schwangerschaft plötzlich verschwinden.
Dabei ist das wohl wichtigste Prinzip der Osteopathie, dass der Körper im Grunde genommen die Fähigkeit hat, sich selbst zu heilen. Man muss ihm nur ein bisschen auf die Sprünge helfen. Treten an einer Stelle des Körpers Schmerzen auf, muss hier nicht zwingend die Ursache für das Leiden liegen. Oftmals sei es vielmehr so, sagt der Berliner Osteopath Thomas Hirth, dass „Bereiche, die Symptome verursachen, Überstunden leisten müssen für Bereiche, die erschöpft sind“. Kommt es dann über längere Zeit zu Fehlbelastungen etwa bestimmter Teile der Wirbelsäule, können „sich Wirbel blockieren und bei Entlastung nicht mehr von allein den Rückweg zur normalen Funktion finden“. Hier greift der Osteopath ein.
Die Anfänge der Osteopathie reichen bis ins vorletzte Jahrhundert zurück. Der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still hat das Grundkonzept dieser Methode bereits 1874 vorgestellt. Seit Beginn des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die Osteopathie vor allem in den USA, England, Frankreich und Belgien ständig weiter. Erst seit 1988 wird sie in Deutschland berufsbegleitend unterrichtet, seit 1995 gibt es einen eigenständigen Berufsverband. Der Verband führt auch eine Liste von Osteopathen, die über eine qualifizierte vierjährige Ausbildung verfügen. Die einzelnen Behandlungen dauern etwa eine Stunde und kosten durchschnittlich 40 bis etwa 70 Euro. In der Regel müssen die Kosten privat übernommen werden. Doch eine Nachfrage bei der Versicherung kann sich dennoch lohnen. Werden die Kosten für Heilpraktiker übernommen, kann meist auch der Osteopath über die Kasse abgerechnet werden.
Bei Babys und Kleinkindern reichen den Angaben zufolge oft schon zwei oder drei Behandlungen aus. Selbst in hartnäckigeren Fällen sollte nach drei bis vier Behandlungen eine Besserung eintreten. Wo nicht, müsse man nach anderen Ursachen suchen.
Der kleine Jonathan hat den Osteopathen bislang übrigens nicht wieder gesehen – und den rechten Arm benutzt er inzwischen ohne Probleme Kaja / hey