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Archiv-Artikel

Ein Bruch? Aber sicher!

AGENDA 2010 (II): Gewerkschaften und Sozialdemokraten sind in Deutschland zu eng verbandelt. Das verhindert nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Reformen

Die einstmals beschworene „Neue Mitte“ könnte wieder ein stärkererBezugspunkt werden

Lange hat der Streit zwischen Schröder-SPD und Gewerkschaften, zwischen Reformern und Traditionalisten im Lager der alten Arbeiterbewegung schon geköchelt. Doch waren beide Seiten bisher bemüht, ihn nicht eskalieren zu lassen. Denn es kann ja nicht sein, was nicht sein darf: dass ein unüberbrückbarer Riss zwischen jener Partei und jener Interessenorganisation entsteht, die in Deutschland seit etwa anderthalb Jahrhunderten auf besondere Weise verbunden sind. Seit kurzem jedoch wird im zugespitzten Streit um die Verwirklichung der „Agenda 2010“ sogar von einem offenen „Bruch“ zwischen SPD und Gewerkschaften gesprochen. Die einen drohen damit, wie der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, die anderen fordern ihn, wie Bundesbankpräsident und SPD-Mitglied Ernst Welteke. Sein Ziel: der SPD und der rot-grünen Regierung mehr Handlungsfreiheit bei Reformen zu ermöglichen.

Wie ernst sind diese Vorschläge gemeint? Sie klingen oft ein wenig wie ein eigentlich unrealistisches Gedankenspiel, über dessen Voraussetzungen und mögliche Konsequenzen man sich deshalb gar nicht genau Rechenschaft ablegen muss. Die Vorschläge werfen jedoch grundlegende Fragen, die man offen diskutieren sollte – Fragen nach der Interessenformierung in einer postklassischen Industriegesellschaft, nach dem Selbstverständnis „linker“ Politik, nach der Zukunft dessen, was einmal die Arbeiterbewegung gewesen ist. Die enge Verbindung von sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften hat historische Gründe, und manchem dieser Gründe ist durch den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte der Boden entzogen worden. Deshalb müsste ein Bruch zwischen SPD und Gewerkschaften kein Schreckensgemälde sein. Sozialdemokraten und Gewerkschaften würden davon profitieren. Hilfreich wäre diese Trennung auch für das ganze reformmürbe Land, das sich den Fahrplan der Veränderung nicht länger von dem internen Streit der Erben von Bebel und Böckler aufzwingen lassen müsste – nicht zuletzt auch für die Grünen, deren eigene Reformpositionen angesichts dieses Streits kaum mehr zur Geltung kommen können.

Der Streit zwischen SPD und Gewerkschaften hat in der Tat mehr als nur tagespolitischen oder taktischen Charakter, er bedeutet mehr als einen Showdown zwischen Schröder und Sommer. Er ist auch keine deutsche Besonderheit, im Gegenteil: In vielen anderen westlichen Ländern hat ein ähnlicher Klärungs- und Differenzierungsprozess schon früher stattgefunden, sind die notwendigen Konflikte bereits ausgetragen worden. In Deutschland tun wir uns damit schwerer, weil die zwei Säulen, auf denen das Bündnis zwischen sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften ruht, hier seit langem zu besonderer Festigkeit gewachsen sind.

Erstens hat sich die Entwicklung von SPD und (sozialistischen) Gewerkschaften seit dem 19. Jahrhundert so parallel und eng verknüpft vollzogen, wie das anderswo keineswegs selbstverständlich war. In England gingen die Gewerkschaften der Labour Party um mehrere Jahrzehnte voraus; in den USA entstanden machtvolle Gewerkschaftsorganisationen, ohne dass sich überhaupt eine sozialistische Partei dauerhaft etablierte. Gleichzeitig dominierte in der deutschen Arbeiterbewegung immer der Parteibezug, während anderswo, zum Beispiel in Süd- und Westeuropa, die betriebliche Orientierung, der Syndikalismus, eine größere Rolle spielte.

Zweitens setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik das Prinzip der Einheitsgewerkschaft gegen die Alternative der weltanschaulich-politischen Richtungsgewerkschaften durch, bei dem in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sozialistische mit christlichen, liberalen und anderen Organisationen in Konkurrenz getreten waren. Für die Stabilisierung der westdeutschen Demokratie ist das wahrscheinlich, wie Historiker gern betonen, ein Vorteil gewesen.

Die britische Labour Party war erst nach dem Bruch mit den Gewerkschaftenregenerationsfähig

Jetzt klingt dieses Argument paradox: Hat die Einheitsgewerkschaft nicht gerade die Bindung an bestimmte Parteien, wie im Bündnis zwischen „Freien Gewerkschaften“ und SPD im Deutschen Reich, erfolgreich durchbrochen? De facto haben die neuen Industriegewerkschaften und hat der DGB jedoch die Erbfolge der sozialistischen Gewerkschaften angetreten und sich davon inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert lang innerlich nicht gelöst. So hat gerade die Einheitsgewerkschaft die Bindung zwischen Gewerkschaften und SPD effektiv noch einmal verstärkt. Gäbe es einen weltanschaulichen Pluralismus der Gewerkschaften, wäre diese enge Geschwisterschaft nur eine unter vielen.

Spricht schon der internationale Vergleich und der historische Rückblick gegen die Zwangsläufigkeit einer Symbiose von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, sind die aktuellen Erfahrungen ein weiteres Indiz in die gleiche Richtung. Die Symbiose hat ihre Funktion erfüllt, aber sich inzwischen ein gutes Stück weit überlebt. Die sozialen Strukturen einer Gesellschaft lassen sich ebenso wenig auf Dauer konservieren wie die Formen ihrer Interessenorganisation, und die Sehnsucht nach Konservierung ist ja gerade eines der deutschen Grundprobleme. Die britische Labour Party hat ihren Kampf mit der Gewerkschaftsmacht schon vor längerer Zeit geführt und ist erst dadurch als „New Labour“ regenerationsfähig gewesen. Im Vergleich mit England vor zwei Jahrzehnten kämpft Schröder freilich an zwei Fronten zugleich: Als Parteivorsitzender muss er das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften neu bestimmen – zugleich jedoch muss er als Kanzler die Interessen des Landes, der ganzen Gesellschaft, gegenüber den Gewerkschaften geltend machen, was in England, dafür kann Tony Blair dankbar sein, die Konservativen unter Margaret Thatcher übernommen haben.

Was wäre mit einem „Bruch“ zwischen SPD und Gewerkschaften – weniger pathetisch könnte man auch sagen: mit einer selbstbewussten Distanznahme beider Seiten – gewonnen? Die Vorteile für die SPD liegen auf der Hand: Sie gewinnt eine größere Freiheit, sozialdemokratisches Programm neu zu definieren; sie gewinnt größere Denk- und Handlungsfreiheit für neue Modelle des Wohlfahrtsstaates und der sozialen Gerechtigkeit. Sie wird freier, sich die Klientel ihrer Politik nicht von der Klientel der Gewerkschaften aufdrängen zu lassen: Die einstmals beschworene, inzwischen abgetauchte „Neue Mitte“ könnte dann wieder ein stärkerer Bezugspunkt werden, aber auch jene neuen Unterschichten und Marginalisierten, die vom traditionalistischen Gesellschaftsbild der Gewerkschaften und von deren Interessenpolitik kaum erfasst werden. Noch größer sind die Chancen, die sich für die Gewerkschaften selbst aus diesem Bruch ergeben könnten: Sie wären von der Fixierung auf eine einzige Partei, von der sie Wohl und Wehe der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen vermeintlich abhängig machen müssen, befreit.

Sozialdemokraten und Gewerkschaften profitierten, wenn sie ihre enge Bindung aufgäben

Während die Gewerkschaften sich auf diese Weise einerseits viel klarer als Interessenorganisation ihrer Mitglieder profilieren könnten, wären sie andererseits frei, ihr Selbstverständnis grundlegend zu wandeln und zu erweitern. Die sinkenden Mitgliederzahlen, die Rekrutierungsprobleme bei Jüngeren und in den expandierenden Milieus der neuen Arbeitswelten zeigen ja unmissverständlich: Als traditionelle Organisation von Interessen der Produktion und Erwerbsarbeit allein haben die Gewerkschaften auf Dauer keine Zukunft. Statt dessen könnten sie sich zum Beispiel vermehrt als Sachwalter, als mächtiger Fürsprecher von Verbraucherinteressen profilieren – hier hat unsere Gesellschaft, auch im internationalen Vergleich, erhebliche Defizite, und Anknüpfungspunkte dazu gibt es für die Gewerkschaften sogar in ihrer eigenen Geschichte, in der Genossenschaftsbewegung. Sie könnten damit die Lebenswirklichkeit von Menschen auch jenseits des Arbeitsplatzes, in Freizeit, Familie und Konsum, repräsentieren – und damit wieder für mehr Menschen attraktiv werden als nur für bestimmte, schrumpfende und alternde Segmente der Arbeitnehmerschaft. Zugleich hätten sie Gelegenheit, andere parteipolitische Optionen, andere Modelle von Staatsbürgergesellschaft, Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat jenseits des sozialdemokratischen, unbefangen zu prüfen: grüne, christdemokratische oder liberale Optionen. Auf diese Weise könnte die Krise der alten Arbeiterbewegung am Ende einen Fortschritt für alle bedeuten.

PAUL NOLTE