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Archiv-Artikel

„Die Söhne haben die Väter entmachtet“

Unser Beitrag zum Vatertag: Nader Khalil über den Generationskonflikt in arabischen Familien und die Schwierigkeit, nach zweierlei Wertmaßstäben zu leben: „Bei uns leben die Väter von ihren Söhnen. Und ich denke, die Väter haben damit ziemliche Probleme gekriegt hier in Deutschland“

„Das ist bei uns nicht üblich, dass der Sohn keinen Respekt hat vor dem Vater“

Interview ALKE WIERTH

taz: Drogen, Gewalt, Kriminalität, auch religiöser Extremismus – das sind die Themen, in deren Zusammenhang arabische junge Männer in Deutschland in letzter Zeit in den Medien auftauchen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Zeitung aufschlagen?

Nader Khalil: Ich habe in meinem Leben bereits viele Vorschläge gehört, was man für oder gegen diese problematischen Jugendlichen tun kann. Aber ich finde, zuerst muss man mal fragen: Wie sind denn die Rahmenbedingungen? Haben denn die Deutschen das wirklich ernst gemeint mit der Integration? Oder sagen sie nicht immer noch, wenn einer Mist baut: Na ja, das ist eben ein arabischer Jugendlicher. Diese Jugendlichen sind Produkte dieser Gesellschaft, sie sind hier aufgewachsen.

Wie sind denn die Rahmenbedingungen der arabischen Einwanderer in dieser Gesellschaft, in Berlin?

Es gibt ungefähr achtzigtausend Araber in Berlin. Davon sind fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Palästinenser. Das sind zum größten Teil Familien, die aus dem Libanon gekommen sind, viele in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre. Sie waren Flüchtlinge, und in diesem Status blieben sie für lange Zeit. Manche haben über Jahre hinweg ihren Aufenthalt immer wieder nur für drei Monate verlängert bekommen. Das heißt, sie hatten keinen sicheren Status, konnten und durften keine Arbeit aufnehmen. Das größte Problem dabei sind die psychischen Belastungen: Ich kann hier nicht wirklich sesshaft werden. Ich kann mein Leben nicht planen, kann auch für meine Kinder keine Pläne machen. Diese Situation ist fürchterlich.

Integration war also nicht vorgesehen?

Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten, für sie gab und gibt es keine Deutschkurse, keine Integrationskurse. Ihre Kinder können zwar die zehnte Klasse abschließen, aber keine Lehre, auch kein Studium anfangen. Wie erkläre ich denn da einem jungen Menschen, warum er überhaupt zur Schule gehen soll? In diesem unsicheren Flüchtlingsstatus haben die meisten von Mitte der Siebziger- bis Mitte der Achtzigerjahre gelebt. In Flüchtlingsheimen. 1985 gab es dann eine Altfallregelung, die den Status der Leute verbesserte und vielen die Chance zur Einbürgerung gab. Damals wurden viele zu deutschen Staatsbürgern. Aber sie konnten kein Deutsch, kannten das Land, die Gesetze, die Regeln dieser Gesellschaft nicht, hatten außerhalb der zuständigen Behörden mit Deutschen nie etwas zu tun gehabt.

Ihre Kinder aber schon.

Und genau darin liegt das Problem. Da die Eltern, die Väter kein Deutsch sprachen, sind die Söhne stark geworden: Die zweite Generation ist bewaffnet mit besserem Deutsch, mit besseren Kenntnissen der Gesellschaft und ihren Gesetzen. Das heißt: der Vater, der die Sprache nicht kann, steht seinem Sohn als Autorität nicht mehr vor. Er überlasst ihm viele seiner Aufgaben, Ämtergänge und so weiter, er muss sie ihm überlassen. Der Vater ist ihm gegenüber schwach. Das ist nicht einfach, und das ist nicht gut.

Der Vater ist keine Respektperson mehr?

Eben. Wenn ich kein Deutsch kann, keine Sprachkompetenz habe, hab ich keine Chance auf einen Arbeitsplatz. Der Vater ist also auch nicht mehr der Ernährer der Familie, er ist arbeitslos, Sozialhilfeempfänger. Er verbringt den Abend vielleicht mit Freunden im Café, weil er’s nicht den ganzen Tag zu Hause aushält. Dann kommt er spät heim und schläft bis zum Mittag. Der Sohn geht zur Schule. Wenn er nach Hause kommt, liegt der Vater immer noch im Bett. Und der Sohn hält den Vater für einen Versager.

Und er weiß, der Vater kommt ohne ihn nicht klar?

Der Sohn kennt seine Macht und nutzt sie. Es gibt bereits Familien, wo der Sohn den Vater anschreit. Das ist bei uns nicht üblich. Dass der Sohn keinen Respekt hat vor dem Vater.

Wie geht es den Vätern mit diesem Autoritätsverlust, diesem Rollentausch?

Vielen der Väter geht es deshalb schlecht. In unseren Familien ist es so: Wenn eine Mutter den Sohn nicht mehr unter Kontrolle hat, dann sagt sie: Ich spreche mit deinem Vater. So stark ist die Position des Vaters, dass diese Ankündigung schon reicht, um den Sohn wieder zur Vernunft zu bringen. Der Vater ist also derjenige, auf den sich die ganze Autorität, die gesamte Erziehung stützt. Und wenn der Vater nach Hause kommt und sagt: Junge, was hast du gemacht, dann sollte der Sohn sich eigentlich entschuldigen. Heute legt der Junge die Füße hoch und sagt: Alter, was willst du?

Welche Reaktionsmöglichkeiten haben die Väter?

Wenn der Vater spürt, dass er schwächer wird, dann neigt er dazu, zurückzukehren zu der Art von Erziehung, zu den Methoden, die er selbst in der Kindheit genossen hat. Das heißt auch, Ansätze von Veränderungsbereitschaft, von einer Offenheit für die deutsche Auffassung von Erziehung gehen dabei völlig verloren. „Zu meiner Zeit“, das ist dann sein Satz. Und der führt meist nicht gerade zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn.

Kommt es dann auch dazu, dass Väter Gewalt anwenden, zuschlagen?

Auch das kann eine Möglichkeit sein, auf die Respektlosigkeit des Sohns zu reagieren. Weil sie das nicht verstehen, was die Söhne machen. Bei uns funktioniert Erziehung so, dass nicht nur die Eltern erziehen, sondern die ganze Familie. Und die Familie ist ein Teil der Gesellschaft. Und wenn hier in den Schulen den Kindern gesagt wird: Du als Person zählst, was du willst, was du möchtest, das ist wichtig, nicht was deine Eltern, was deine Familie finden, dann entsteht ein Problem. Ich will gar nicht sagen, dass das falsch ist, das sind einfach Rollenunterschiede, aber daraus ergeben sich Probleme. Der Sohn ist in der Familie zur wichtigsten und mächtigsten Person geworden, er erklärt seinen Eltern die Welt, und diese besondere Stellung wird dadurch noch gestärkt. Vor diesem Hintergrund erleben wir sogar, dass Söhne gewaltsame Auseinandersetzungen mit ihren Vätern provozieren.

Dieser Verlust des Vaters als Vorbild – welche Konsequenzen hat der für die Söhne?

Wenn ich mein Vorbild zu Hause vermisse, dann kann ich mir eines in einem Film suchen, meistens in einem sehr schlechten Film, oder ich kann es auf der Straße suchen, bei älteren Jungs. Und da fängt oft ein Teufelskreis an: bei der Mutprobe, bei der Clique, beim Dazugehörenwollen. Ich kenne viele Jungen, die sagen: Ich tue alles für die Clique. Das Problem vieler Jugendlicher ist: Sie denken, mit Gewalt, mit Aggressivität kann ich mir Respekt verschaffen. Aber das ist kein richtiger Respekt, das ist bloß Angst, was dabei rauskommt. Respekt hat etwas mit Wissen zu tun, mit Lebenserfahrung. Menschen, die etwas erreicht haben, vor denen hat man Respekt. Das haben die Väter hier kaum vorzuweisen. Und deshalb haben die Jungen nicht gelernt, was unter Respekt zu verstehen ist. Sie vermischen die beiden Dinge, Angst und Respekt. Es gibt wohl keine arabische Familie, die will, dass ihr Sohn gewalttätig wird. Dennoch wird eine solche Entwicklung in gewissem Sinne auch von der Familie begünstigt: Der Junge muss stark sein, er muss die Schwester beschützen. Das ist vielleicht in anderen Gesellschaftsstrukturen sinnvoll. Aber hier kommt es zu Problemen, weil die deutsche Erziehung andere Werte hat. Wenn wir die Kinder hier einfach so erziehen, wie wir selber erzogen worden sind, dann wird es zu Problemen kommen.

Was muss also getan werden, um das Problem zu lösen?

Wir müssen die Eltern stärken, wenn wir die Probleme der Jugendlichen lösen wollen. Wir müssen die Eltern zu Gesprächspartnern machen. Sie kennen das deutsche System zu wenig, sie wissen nichts über die deutsche Gesellschaft, sie sprechen kaum Deutsch und ziehen sich deshalb an Plätze zurück, wo ihre eigene Sprache gesprochen wird. Das heißt: Sie existieren praktisch nicht in der deutschen Gesellschaft.

Für arabische Frauen gibt es ja einige Betreuungsangebote. Aber wie kommt man an die Männer heran?

„Da die Eltern kein Deutsch sprachen, sind die Söhnestark geworden“

Die Männer kommen gerne zusammen, die reden gerne, und da müssen wir überlegen, aus diesen Zusammenkünften etwas zu entwickeln. Dass wir da Sprachkurse ansiedeln, dass wir da Ansprechpartner reinholen, dass sie auch ein bisschen Spaß dabei haben, aber vor allem lernen, sich Wissen aneignen, dass sie auch ihre Scham überwinden. Denn sie schämen sich zu sagen: Ich kann kein Deutsch. Wir müssen die Väter in die Lage versetzen, dass sie sich wieder kümmern können. Wenn heute der Sohn den Vater fragt: Welchen Schulabschluss, welche Ausbildung soll ich machen?, dann muss der Vater sagen: Ich weiß es nicht. Denn er kennt sich nicht aus. Wir müssen die Eltern in die Lage bringen, ihr Rolle zu erfüllen. Das beginnt bei der deutschen Sprache, bei der Aufklärung über das Schulsystem, über deutsche Rechte und Gesetze. Wir müssen wieder dahin kommen, dass der Vater den Sohn über die Gesellschaft aufklärt und nicht der Sohn den Vater.

Glauben Sie denn an die Kooperationsbereitschaft der Väter?

Es gibt Väter, die sprechen darüber, aber das ist nicht die Mehrheit. Es gibt Familien, die sprechen mit Vertrauenspersonen, ich höre das hier in der Beratung sehr häufig. Den Deutschen gegenüber fehlt das Vertrauen. Denn viele der Älteren machen ja gerade dieses deutsche System für das verantwortlich, was in ihren Familien passiert. Die jungen Leute leben in einer Mischung zwischen der arabischen und der deutschen Welt, aber sie hängen in keiner von beiden wirklich fest. Das ist wie, wenn einer zwei Sprachen spricht, aber keine von beiden richtig. Sie haben nicht das Ganze vom Arabischen, und sie haben nicht das Ganze vom Deutschen. Da könnte etwas Neues draus entstehen. Und ich hab das Gefühl, das muss nichts Schlechtes sein.

So wie bei Ihnen?

Viele sagen mir, ich sei kein typisch arabischer Fall. Ich habe beide Seiten kennen gelernt. Ich bin als Zwölfjähriger hergekommen, und das war gut so: Ich konnte Arabisch, ich hatte eine gute arabische Erziehung genossen, die saß fest, aber eben nicht so fest, dass das Deutsche nicht auch noch dazukommen konnte. Ich konnte beides unterbringen. Und ich komme hier klar.

Küssen Sie Ihrem Vater noch die Hand?

Ich hätte kein Problem damit, meinem Vater die Hand zu küssen. Ich bin selbstbewusst genug, ihm diesen Respekt zeigen zu können. Wir sind eine Familie mit acht Kindern, fünf Mädchen und drei Jungen. Mein Vater war Arbeiter, er hat nicht die Chance gehabt, viel zu lernen. Aber wir haben die Chance gehabt, und wir alle haben eine Ausbildung gemacht, alle haben einen Beruf und alle, bis auf den Jüngsten, sind verheiratet.

Ihr Vater hat also Grund, stolz zu sein. Wie geht es denen, deren Kinder hier weniger gut klargekommen sind?

Die Väter bei uns sagen: Wenn ich heirate und Kinder bekomme, dann höre ich auf, für mich zu leben. Ich lebe dann für meine Kinder. Und am Ende, wenn die Kinder groß sind, dann bemisst sich ihr Erfolg daran, was aus den Kindern geworden ist. Bei uns leben die Väter von ihren Söhnen. Und ich denke, die Väter haben damit ziemliche Probleme gekriegt hier in Deutschland.