: Realität verbessern statt verbieten
Kinderarbeit existiert, auch wenn die Erste Welt sie verbieten möchte. Auf ihrem 2. Weltkongress in Berlin wollen sich Kinderarbeiter vernetzen
VON ANNETTE JENSEN
Sie haben die Nase voll. Davon, dass Erwachsene immer meinen, besser zu wissen, was gut für sie ist. Sie arbeiten, und dafür erwarten sie Respekt. Sie wollen mitbestimmen und nicht ständig als Problem definiert werden. In über 25 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas existieren inzwischen Organisationen arbeitender Kinder. Als Ort für ihr zweites Welttreffen haben sie sich ganz gezielt für Berlin entschieden: Endlich sollen ihre Anliegen auch in Industrieländern wahrgenommen werden, nachdem das erste Welttreffen in Indien vor acht Jahren kaum Beachtung auf der Nordhalbkugel fand.
Vom 18. April bis 2. Mai werden etwa 30 Delegierte in Berlin weilen; der jüngste ist 13 Jahre alt, die meisten zwischen 15 und 17. Es geht ihnen nicht nur um Erfahrungsaustausch. Auch Debatten mit Politikern, Gewerkschaftern, Vertretern von UNO und Fair-Handels-Organisationen sowie Globalisierungskritikern sind geplant. Zentraler Diskussionspunkt wird dabei das Verbot von Kinderarbeit sein, das die internationale Arbeitsorganisation (IAO) verabschiedet hat und das inzwischen von den meisten Ländern abgesegnet wurde.
211 Millionen Malocher
Die Realität lässt sich aber nicht verbieten: Weltweit arbeiten 211 Millionen Kinder unter 15 Jahren – Tendenz steigend. In Lateinamerika schuftet schätzungsweise jedes sechste, in Asien jedes fünfte Kind. Im südlichen Afrika, wo viele Eltern an Aids sterben, arbeitet sogar ein Drittel der Mädchen und Jungen.
Zwar hat die internationale Bewegung arbeitender Kinder (NAT) vielfältige Wurzeln und Anliegen. Doch über eines besteht Konsens: Nicht die Abschaffung der Kinderarbeit ist ihr Ziel, sondern die Verbesserung der Situation der minderjährigen Erwerbstätigen. Das Kindheitsideal der Industrieländer, bei dem jungen Menschen weder ökonomische noch gesellschaftliche Verantwortung zugestanden wird, erscheint den Aktivisten aus Drittweltländern weder realistisch noch erstrebenswert. So heißt es in einer Deklaration, die nach einem Treffen lateinamerikanischer und karibischer Gruppen 2001 in Paraguay verabschiedet wurde: „Wir sind der Ansicht, dass es ein Recht gibt zu arbeiten, davon ausgehend, dass Arbeit dem Menschen Würde gibt. Sie ist eine Quelle des Lernens und des Familieneinkommens.“ Inakzeptabel seien dagegen ausbeuterische und von Gewalt geprägte Arbeitsbedingungen. Außerdem fordern die Kinder kostenfreie Bildung und medizinische Versorgung.
Bhima Sangha, die Kindergewerkschaft im indischen Karnataka, fordert, dass arbeitende Menschen schon vor ihrem 18. Geburtstag Kredite aufnehmen können. Ein plötzliches Verbot von Kinderarbeit lehnt die Organisation in einem Grundsatzpapier ab: „Bevor Kinderarbeit verboten wird, müssen Alternativen entwickelt werden, damit die Kinder überleben können.“
Die Bewegung der arbeitenden Kinder ist zwar in Europa so gut wie unbekannt, aber keineswegs ein neues Phänomen. Die ersten Initiativen entstanden in Lateinamerika und sind schon fast 30 Jahre alt. In Peru unterstützten arbeitende Kinder 1976 während eines Streiks ihre Eltern und entwickelten dabei auch eigene Aktivitäten. Mit Hilfe einiger Jugendlicher begannen sie sich anschließend zu organisieren und gründeten die christliche Organisation Manthoc, von deren Erfahrungen später auch andere lateinamerikanische Initiativen profitierten.
Oft sind es ganz konkrete Probleme, die die Initialzündung für den Zusammenschluss von Kindern geben. So schubsten die Erwachsenen auf dem größten Markt von Lima die Jungen und Mädchen immer zur Seite, wenn sie die eigentlich allen zur Verfügung stehenden Transportwagen nutzen wollten. Mit Hilfe einiger fitter Polizisten organisierten sie sich schließlich eigene Wagen und gründeten die Organisation „Colibri“.
Erwachsene als Helfer
Im indischen Bangalore entstand Anfang der Achtzigerjahre die Kindergewerkschaft Bhima Sangha. Zuvor hatte eine Erwachsenen-Gewerkschaft für im Tourismus Beschäftigte feststellen müssen, dass ihre Versammlungen plötzlich zu einem Großteil von Kinderarbeitern besucht wurden. Mit Hilfe der Gewerkschafter bauten die Mädchen und Jungen schließlich ihre eigene Interessenvertretung auf. Finanziert wird sie durch Mitgliedsbeiträge. Mit Unterstützung von Erziehern haben sie inzwischen auch eine Kreditgenossenschaft gegründet, um Bildungsangebote wahrnehmen zu können.
Seit 1994 gibt es auch in Afrika ein wachsendes Netz von Organisationen arbeitender Kinder, das sich inzwischen von den französischsprachigen Ländern auch in den Osten und Süden des Kontinents ausgebreitet hat.
Der Kongress in Berlin wird von ProNats organisiert, einem Initiativkreis, der sich für eine differenzierte Betrachtung des Themas Kinderarbeit einsetzt. Die Erwachsenen verstehen sich dabei als Auftragnehmer der Kinder. Während eines Großteils der Veranstaltung sollen die Kinder und Jugendlichen unter sich bleiben; nur Übersetzer sind dann zugelassen.