: Jedem Kind sein Kreuz
Der Bundestag debattiert das so genannte Kinderwahlrecht: Eltern sollen entsprechend der Anzahl ihrer Kinder bei Wahlen mehr Kreuzchen machen dürfen. Eine wohlfeile PR-Aktion für Abgeordnete
VON ANJA MAIER
Wenn Kinder heute wählen dürfen, rufen sie die am Bildschirmrand eingeblendete 01 90er-Nummer an und machen Alexander Klaws zu Deutschlands Superstar. 13 Millionen zumeist nicht wahlberechtigte Bundesbürger saßen vor Jahresfrist vor dem Fernseher und übten ihr Wahlrecht aus: Herr Klaws aus Ahlen gewann mit einer überzeugenden Mehrheit von 70 Prozent die Hoheit über Deutschlands Kinderzimmer.
14 Millionen Kinder und Jugendliche sollen nach dem Willen zahlreicher Abgeordneter künftig den Bundestag mitwählen. Nicht direkt, sondern über das Kreuzchen ihrer Eltern. Über einen entsprechenden Antrag wurde gestern im hohen Haus debattiert. Dass Volksvertreter aus allen Fraktionen das Papier unterstützen, sollte stutzig machen. So etwas kommt eigentlich nur vor, wenn entweder kein moralischer Spielraum gegeben ist, etwa bei Katastrophen. Oder wenn sie einen leicht verdienten Imagegewinn wittern.
Als „populistisch motivierten Unsinn“ bezeichnet denn auch Norbert Röttgen, rechtspolitischer Sprecher der Union, die Idee des Kinderwahlrechts gegenüber Spiegel-Online. Und tatsächlich: Der Verdacht liegt nahe, dass da den hierzulande immer weniger werdenden Eltern ein bisschen Mitbestimmung im Interesse ihrer Kinder zugestanden wird, während hintenrum jede kühl rechnende Kommune längst die Kitagebühren erhöht hat.
Auch das Argument, in unserer immer älter werdenden Gesellschaft müsste politisches Gewicht weg von der Seniorengeneration und hin zu den Jüngeren verschoben werden, greift zu kurz. In, sagen wir, spätestens 18 Jahren nämlich ist aus der kleinen Kira, deren Pampers heute von monatlich 154 Euro Kindergeld finanziert werden, eine Wahlbürgerin geworden, die womöglich keine Lust hat, ihre Eltern und Großeltern durchzufüttern. Und außerdem wählt sie dann die Anarchistische Pogo-Partei.
Der Verdacht, ein so genanntes Kinderwahlrecht sei eher ein Eltern-die-Kinder-kriegen-Belohnungs-Wahlrecht, liegt verdammt nah. Denn von politischer Bildung beziehungsweise Entscheidungsfähigkeit eines fünf Jahre alten Lego-Baumeisters oder einer siebenjährigen Barbie-Freundin kann nicht ernsthaft die Rede sein. Und auch dass die Eltern der 16-jährigen Jana, die sich in der örtlichen Antirassismus-AG engagiert, losgehen und mit Janas Stimme Stoiber wählen, dürfte nicht unbedingt zum Familienfrieden im Reihenhaus beitragen.
Überhaupt: Wie sollte eine verantwortungsvolle Wahrnehmung des Wahlrechts von Kindern durch Eltern aussehen? Wer wählt denn da? Mama oder Papa? Hat jeder eine halbe Stimme? Gehen die dann zusammen in die Wahlkabine? Wird vorher diskutiert oder gependelt? Was ist mit nicht verheirateten oder getrennten Eltern? Und ist das alles dann noch geheim und frei?
Die knapp fünfzig Befürworter des Kinderwahlrechts sind auf derlei Anwürfe gut vorbereitet. Die Initiativgruppe, der unter anderem Roman Herzog (CSU), Hermann Otto Solms (FDP) oder Antje Vollmer (Grüne) angehören, argumentiert, dass Kinder schließlich ab 7 Jahren bedingt geschäftsfähig und mit 14 Jahren strafmündig seien. Ganz abgesehen davon, dass sie schon von Geburt an eigenständige Rechtspersonen sind. Und dass eine allein erziehende Mutter von vier Kindern genauso viel Macht an der Wahlurne hat wie die kinderlose Frührentnerin, erscheint wohl jedem ungerecht.
Dass das Kinderwahlrecht Realität wird, steht nicht zu befürchten. Für eine solche Regelung müsste nämlich das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Die Zahl der Befürworter im Bundestag wurde noch vorgestern von SPD und Grünen auf ein Drittel geschätzt. Wohl auch deshalb ist das Dafürsein überfraktionell.
Käme das Kinderwahlrecht doch – der Aufschrei wäre gigantisch. Wieder einmal spaltete sich die Gesellschaft in Gebärerinnen und Verweigerinnen, in Kindergeld-Abzocker und kinderlose Ehegatten-Splitter. Eine überflüssige Debatte. Dass im Osten derzeit jede dritte Schule wegen des Geburtenknicks 1989 eine Schließungsdebatte ertragen muss, dass 6,6 Prozent aller Kinder in diesem Land Sozialhilfeempfänger sind, dass Skaterbahnen Parkplätzen weichen müssen und die ältere Mehrheitsgesellschaft vor Jugendlichen Angst hat im Dunkeln – das sind Probleme, die das deutsche Parlament zum Teil lösen könnte. Aber das würde ja kosten: Geld und Haltung. Jedenfalls mehr als das Abnicken wohlfeiler Absichtserklärungen.