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Archiv-Artikel

Kollektiver Selbstmord als letzter Ausweg

Noch ist unklar, wer hinter den jüngsten Anschlägen in Usbekistan steckt. Eine Spur führt ins Lager muslimischer Extremisten. Die Regierung nutzt die Ereignisse zu Repressionen gegen muslimische Gruppen, ist an Aufklärung jedoch kaum interessiert

AUS TASCHKENT PETER BÖHM

Die Spuren des Kampfes sind noch gut zu sehen. Getrocknete Blutflecken am Boden, in einem schmutzig-roten Abwassergraben schwimmt ein Frauenschuh und auf dem Weg daneben liegen ein paar schwarze Stofffetzen. Hier in Jalangatsch, einem Vorort der usbekischen Hauptstadt Taschkent, fand am Dienstagvormittag das größte Gefecht der Terrorserie der vergangenen Tage statt, offenbar zwischen militanten Islamisten und der Polizei. Nach Augenzeugenberichten verschanzten sich in einer Wohnung im zweiten Stock 20 Angreifer. Die Polizei brachte erst nachmittags die Gegend unter Kontrolle.

In Jalangatsch, rund 10 Kilometer nordöstlich des Zentrums, stehen die für Usbekistan typischen, weiß getünchten, einstöckigen Häuser und vereinzelte Plattenbauten. In den Gärten wächst Wein, die Menschen bauen Gemüse an oder halten ein paar Hühner. Am Dienstagmorgen um 8.30 Uhr explodiert hier an einem Kontrollposten an der großen Straße ein Kleinwagen. Wie viele Polizisten dabei getötet und verletzt werden, ist nicht klar. Unmittelbar danach versucht eine Frau mit einem Sprengstoffgürtel, die in der Nähe gewartet hat, in einen öffentlichen Bus einzusteigen. Das gelingt ihr nicht, und sie sprengt sich an der Straße in die Luft.

Die Polizei kann eine Gruppe der Angreifer zu einem heruntergekommenen Wohnblock verfolgen. Im zweiten Stock haben sie vor rund einem Monat eine Wohnung gemietet. Mehrere Stunden kann die Polizei den Widerstand nicht brechen, denn die Angreifer haben offenbar keine Angst zu sterben. Drei Frauen sprengen sich im Treppenhaus und vor dem Block in die Luft. Die anderen Angreifer werden von der Polizei erschossen.

„Das waren Wahabiten aus Buchara“, sagt eine Anwohnerin, die anonym bleiben möchte. Wahabiten – so werden islamische Extremisten in Usbekistan oft genannt. Und dass sie aus Buchara gewesen seien, sagt die Frau, wisse sie, weil die Polizei bei einem Terroristen einen Ausweis aus Buchara gefunden habe. Andere bestätigen das. Auch, dass die Frauen und Männer alle schwarz gekleidet gewesen seien und die Frauen einen Tschador getragen hätten, so dass nur ihre Augenpartie zu sehen war.

Schon im Februar 1999 waren in Taschkent kurz hintereinander mehrere Bomben explodiert. Die Regierung machte damals die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU) für die Anschläge verantwortlich. In den Sommern 1999 und 2000 unternahm die IMU mit der Unterstützung der Taliban-Regierung von Basen in Afghanistan und Tadschikistan mehrere Guerillaangriffe auf Usbekistan. Nachdem jedoch offenbar ihr Anführer Juma Namangani bei einem US-Angriff im Dezember 2001 im Norden Afghanistans getötet wurde, galt die IMU als ungefährlich.

Mit Ausnahme von zwei Bombenanschlägen in Kirgistan – im Dezember 2002 auf den größten Markt in Bischkek und im Sommer 2003 auf eine Wechselstube in Osch – wurde es um die Organisation ruhig. Für diese zwei Anschläge wurde vor kurzem ein junger Usbeke zu Tode verurteilt, und seine Aussagen vor Gericht ließen die IMU in wenig vorteilhaftem Licht erscheinen. Ein Kontaktmann von al-Qaida habe ihm in Istanbul eine Bombe übergeben, sagte er, mit dem Auftrag die US-Botschaft in Bischkek in die Luft zu sprengen. Da ihm das jedoch unmöglich war, ließ er die Bombe auf dem Bischkeker Markt detonieren.

Niemand kann jedoch sagen, ob diejenigen, die für die Anschläge der letzten Tage verantwortlich zeichnen, mit der IMU in Verbindung stehen. Das Muster, dass die Angreifer ihren eigenen Tod mit einkalkulierten, dass sie gewissermaßen kollektiven Selbstmord begingen, verweist für die unabhängige Politologin Marina Pikulina vielmehr auf das extrem repressive politische Klima in Usbekistan. „Nach den Bombenanschlägen im Februar 1999 ist die Regierung rabiat gegen alle und jeden vorgegangen, die sich keine Vorschriften machen lassen wollten, wie sie ihren islamischen Glauben ausüben. Diese Politik hat viele Menschen bei uns in die Arme der Extremisten getrieben. Nehmen Sie die Frau, die sich am Montagmorgen mit ihrem sechsjährigen Sohn auf dem Chorsu-Markt in die Luft gesprengt hat. Die Leute sagen, dass ihr Mann als Mitglied der verbotenen Hisb ut-Tahrir angeklagt und ins Gefängnis gesteckt wurde. Im September ging sie in ein Ausbildungslager nach Afghanistan. Eine Frau, die ihr Kind mit in den Tod nimmt – das ist sehr ungewöhnlich für unser Land. Das tun nur Leute, die völlig verzweifelt sind.“

Allison Gills, die Vertreterin von Human Rights Watch in Usbekistan, sagt, ihre Organisation sei besorgt, dass die usbekische Regierung die Anschläge zum Vorwand nehme, um gegen die in unabhängigen Gruppen organisierten Muslime vorzugehen. „Von der Regierung haben wir kaum Informationen, was in den letzten Tagen passiert ist, und wir haben festgestellt, dass die Sicherheitskräfte kaum eine ernsthafte Untersuchung an den Orten der Anschläge vorgenommen haben. Es gab keine Spurensicherung und auch keine forensischen Experten. So können die Staatsanwälte leicht die Beweislage manipulieren. Das war in der Vergangenheit oft in Verfahren gegen mutmaßliche muslimische Extremisten der Fall.“

Für Jalangatsch trifft das auf jeden Fall zu. Die Polizisten, die vor dem Plattenbau herumstehen, beschränken sich darauf, zu versuchen, den Berichterstatter zu vertreiben oder seine Gesprächspartner, damit sie ihm nichts sagen.