: Ein offenes Ohr in Altona
Eine Initiative in Ottensen hilft Schülerinnen mit Migrationshintergrund bei Schulproblemen und erhält dafür zum zweiten Mal den Integrations-Preis „Hamburger Tulpe“
von Annika Noffke
„Früher habe ich Chemie gehasst“, gibt Sara Mehdizadeh zu. Heute überlegt die 18-Jährige sogar, das Fach oder Medizin zu studieren. Seit fünf Jahren besucht die Wandsbekerin die Interkulturelle Schülerinnen Initiative e.V. (ISI) in Ottensen. „Seither denke ich ganz anders über die Schulfächer“, sagt Sara.
Die Initiative hat der Migrantin Mut gemacht, es bei der Kurswahl in der Oberstufe auch mit Naturwissenschaften zu probieren und im Unterricht selbstbewusster aufzutreten. „Bei schwierigen Fragen wird ein bestimmter Kreis von Schülern drangenommen“, berichtet Saras Freundin Anahita Soltani, mit der sie das Matthias-Claudius-Gymnasium besucht. „Da fühlt man sich manchmal nicht ernstgenommen.“ Migrantinnen werde häufig das Abitur nicht zugetraut, kritisiert Sozialpädagogin Christa Netschert. „Sämtliche Fördermöglichkeiten hören in der Oberstufe auf.“
Sara und Anahita sind nicht die einzigen, die montags und donnerstags eine fast einstündige Anfahrt in Kauf nehmen, um bei der ISI zu lernen oder Gleichaltrige zu treffen. 26 Schülerinnen, zumeist türkischer Herkunft, besuchen die hamburgweit einzigartige Einrichtung. „40 weitere stehen bereits auf der Warteliste“, so Netschert.
Für ihren Erfolg erhielt die Initiative die diesjährige „Hamburger Tulpe“, den Integrations-Preis der Hamburger Körber-Stiftung. Das Projekt wurde 1985 ins Leben gerufen, als erste Migrantinnen Abitur machen wollten und bei der benachbarten INCI (Internationale Cultur und Information für Frauen) um Förderung baten. Damals noch Teilprojekt der INCI, war die ISI im Jahr 2000 schon einmal „Tulpe“-Preisträgerin. „Wir haben sie jetzt nochmal mit dem Anerkennungspreis auszeichnet, weil sie sich so erfolgreich selbständig gemacht hat“, begründet Oya Abali von der Stiftung die zweite Ehrung.
Die ISI wird durch keinerlei öffentliche Gelder finanziert. Private Stiftungen unterstützen sie regelmäßig, nicht nur mit Geld: „Sie fungieren auch als Türöffnerinnen“, so Netschert. Anahita und Sara haben in der zehnten Klasse über Stiftungen einen Praktikumsplatz bei einer Kinderärztin und einem TV-Sender gefunden. „Das war toll, mal was ganz anderes“, schwärmt Sara. Ein Netzwerk soll nun entstehen aus ehemaligen Schülerinnen, die aus Studium und Beruf erzählen. „Die Mädchen brauchen Vorbilder“, erklärt Netschert.
Bei der ISI arbeiten neun Betreuerinnen. „Auch das Team ist international“, betont Filiz Tașdemir, die selbst Türkischunterricht gibt. Zwei Helferinnen stammen aus der Türkei, eine ist polnischer, eine jordanischer Herkunft. Sie bieten den Mädchen weit mehr als die pädagogische Betreuung aller Schulfächer: Zweimal im Jahr finden Workshops statt, in denen Bewerbungsgespräche und Präsentationen geübt werden. Die Mädchen können kostenlos Internet und einen Computer mit Lernsoftware nutzen. Außerdem gibt es eine Bibliothek und ein Café.
Nicht nur mit Schul-Problemen kommen die Mädchen zur ISI. „Sie finden auch Rat, wenn es in der Familie kracht oder es Probleme mit dem Freund gibt“, sagt Netschert. „Hier sind alle ganz offen“, meint Eylem Simsek. Die 20-Jährige lobt, anders als in der Schule gebe es keinen Zwang. Man könne selbst entscheiden, ob man für ein Referat recherchieren, Vokabeln lernen oder im Café plaudern möchte.
Dass Jungen hier keinen Zutritt haben, genießen die Schülerinnen. „Der männliche bewertende Blick fehlt“, begründet Pädagogin Netschert, warum der Freiraum für die Mädchen so wichtig ist, „wenn auch die Jungs häufig ein Gesprächsthema sind.“ „Wir werden nicht so abgelenkt“, sagen Sara, Anahita und Eylem. Allerdings sollte es solch eine Einrichtung auch für Jungen geben, sind sich die Mädchen einig. „Mein Cousin hat Schwierigkeiten in der Schule“, berichtet Sara, „der könnte sowas wie ISI auch gebrauchen.“