Gekicher auf den Dixiklos

Notizen vom Kirchentag: Warum Wolfgang Thierse plötzlich keine Lust auf Autogramme hat, der RBB einfach Klaus Wowereit abschaltet und Elisabeth Spieß zwei Jahrzehnte eine geheime Liebe lebte

von NADJA KERSCHKEWICZ
, STEFAN LEIFERT
und BERNHARD POETTER

Für den frisch fusionierten Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) soll der Kirchentag nach Aussage der neuen Intendantin Dagmar Reim zur ersten Bewährungsprobe werden. Daran müssen die Kollegen wohl noch arbeiten: Beim Eröffnungsgottesdienst hinkten die Bilder auf der Videoleinwand dem Geschehen auf der Bühne um eine Sekunde hinterher: War die Predigt vom Ton her schon beendet, sahen die Zuschauer in den hinteren Reihen die Redner immer noch kräftig beim Lippenbewegen. Nach der Eröffnung des Treffens fielen die Mikrofone aus. Und während noch das letzte Grußwort gesprochen wurde, ausgerechnet von Berlins Regierendem Klaus Wowereit, schaltete der Hauptstadtsender einfach ab – und zu einem ratlosen Reporter, der schon mal Interviews führen sollte.

***

Bei einem Interview im Zollernhof sollte Wolfgang Thierse Fragen aus dem Alltag des kleinen Mannes beantworten. Den Preis für ein Kilo Spargel meisterte der Bundestagspräsident noch locker. Dass er die Nummer der Auskunft nicht weiß, entschuldigte Thierse stolz mit dem Luxus seiner Sekretärin. Als er aber die Höhe des Existenzminimums in Deutschland mit 500 Euro auf fast das doppelte schätzte, wurde der Bundestagspräsident rot. Derzeit sind es 283 Euro. Verschämt forderte Thierse eine sofortige Erhöhung. Als er beim Rausgehen dann auch noch seine Frau verlor, ließ seine Laune nicht mal mehr Autogrammwünsche zu: „Nee, da fange ich gar nicht erst mit an.“

***

Ein Drittel der BesucherInnen auf dem Kirchentag sind katholisch, zwei Drittel evangelisch, und ein paar Zerquetschte sind nach offiziellen Angaben von anderen Konfessionen oder konfessionslos. Wie man sie im Einheitslook von Birkenstock, Turnschuhen, gelben Schals und Combat-Hosen auseiander halten kann? Beim Eröffnungsgottesdienst kein Problem: Wer bei den Eröffnungsworten „Im Namen des Vaters …“ ein Kreuzzeichen macht, ist ein Papist.

***

Der Berliner evangelische Bischof Wolfgang Huber sprach bei der Eröffnungsfeier davon, dass der Kirchentag am Brandenburger Tor wieder das Ende einer Trennung feierte: erst die deutsche Teilung, nun die Trennung der Christen. Bei all der Analogie zum Grenzregime der DDR fiel im offiziellen Liederheft des Kirchentags ein peinlicher Tippfehler auf: Im Gemeindelied „Ich steh vor Dir mit leeren Händen“ hieß der Text: „Schieß auf das Land, das keine Grenzen kennt“.

***

Im „ÖKT“-Shop auf dem Messegelände gehen die VIP-Bänder besser weg als die langweiligen Thermosflaschen. Allein auf der Eröffnungsfeier rissen sich 4.000 um die hippen blauen Bänder, mit denen sich jeder zum VIP behängen kann. Als gezielte Provokation sind sicher die 0,5-l-Abendmahlsbecher aus Terrakotta für 3,50 Euro gedacht. „Die gehen aber nicht so gut“, meint Jule vom ÖKT-Shop. „Das sind Restbestände vom letzten Evangelischen Kirchentag.“

***

Gekicher auf den Dixiklos. Ein großer Glatzkopf stößt sich seinen Kopf an den Füßen, die vom Dach baumeln. Wie der kleine Zöllner Zacharias, der auf einen Baum kletterte, um Jesus zu sehen, sitzt beim Eröffnungsgottesdienst das junge Kirchenvolk auf der 250 Meter langen Toilettenstaffette vorm Brandenburger Tor. Und singt voller Inbrunst: „Wir glauben Gott im höchsten Thron.“

***

„Beten Sie den mal“, ruft Edith Mahrt ihren Standbesuchern zu. Bei einem Verein zusammengeschlossener Marienverehrer vor der Staatsoper gibt es den „Rosenkranz der göttlichen Barmherzigkeit“ kostenlos auf CD-ROM. „Dann fällt man nicht der ewigen Verdammnis anheim, egal was sie auf dem Kerbholz haben!“ – „Irgend ’ne Sekte“, meint ein Vorbeigehender. Auf dem Tisch liegen Bücher wie „Eucharistische Wunder“ und CDs mit Vorträgen gegen die Pille. „Wir sind sehr offen für alles Mögliche“, erklärt Franz Einertshofen. „Uns ist egal, ob Fatima, Lourdes oder Medjugorje – ist ja immer dieselbe Mutter Gottes.“

***

Unter Tränen erzählt Elisabeth Spieß von ihren zehn Jahren Ehe mit dem 30 Jahre älteren Priester Lorenz Spieß. Mit 22 Jahren verliebte sie sich in den Pfarrer und führte zwei Jahrzehnte eine Geheimpartnerschaft. Nach seiner Pensionierung outete sich ihr Freund, wurde vom Priesteramt dispensiert und heiratete sie. „Das musste geheim stattfinden.“ Die Kirche erlaubte keine Öffentlichkeit für die Trauung. „Und so waren wir zu viert: Wir beide, der Pfarrer und der Messner.“ Eine Feier gab es nicht. „Wir sind dann heim und haben Johannisbeeren gepflückt.“ Elisabeth Spieß ist heute 69, ihr Mann starb vor fünfzehn Jahren.

***

Christoph Krause hat eine schneidige Stimme. „Wahrscheinlich bin ich deswegen auch Soldatenseelsorger geworden.“ Krause betreut die jungen Männer in Freud und Leid. „Ich bin so was wie der Mülleimer der Truppe“, meint er. Neulich kam ein Kamerad zu ihm, der gerade eine heftige Beziehungskrise durchmacht und zur Truppe nach Afghanistan sollte. Aber ein halbes Jahr weg sein, dann werde die Freundin endgültig Schluss machen. „In solchen Fällen kann man als Soldatenseelsorger schon mal was machen.“ Er musste nicht zu den Taliban.

***

Zwei schalbehangene Jugendlichen-Fratzen tauchen aus dem Dunkel auf, haben sich die knittrigen Kirchentagsschals wie eine Mähne um den Hals gelegt und rasseln mit ihrer Spendendose – „Nur einen Euro, und du bist auch dabei“, preist der Blonde enthusiastisch seinen Kirchentagsfanartikel an und bekommt spontan eine Münze in seine Rasselbox gesteckt. Warum die Dinger so verknittert sind? „Die wurden gefärbt und gewaschen – einfach heute Abend mal kurz rüberbügeln“, wendet der Braunhaarige ein, der den maisgelben Schal à la Rambo um die Stirn gebunden hat. Klar, hat ja auch jeder ein Bügeleisen im Wanderrucksack. Aber was soll eigentlich der verschmitzte Hinweis am Schal: Made in India?! „Alles aus fairem Handel – steht doch auf der Rückseite“, sagt ein Herr hinter Rambo. Stimmt. „Selig sind, die Frieden stiften.“

***

Pfarrer Lorenz Seiser aus Freiburg sitzt auf einer Treppe und meditiert vor den offiziellen Kirchentagsplakaten. Um den Hals hat er eine dieser gelben Heiligenschein-Frisbees. Drei Jugendliche lauschen seinen tiefen theologischen Interpretationen. „Guckt mal, das sind die Heiligen des Alltags.“ Besonders das Bild mit der alten Frau auf dem Balkon und der Satellitenschüssel hat es Seiser angetan. „Die Frau lebt halt in ihrer kleinen Welt, ist aber immer auf Empfang. Ihre Welt ist irgendwie größer als der Balkon. Heilig ist man, wenn man sich auf seine inneren Quellen stützt.“ Seiser hat sich gleich fünf von den Plakaten gekauft. Der nächste Jugendgottesdienst steht.